- Politik
- Streiks in Großbritannien
Schuld an Streiks ist die Tory-Regierung
Briten machen mehrheitlich das konservative Kabinett für die großen Streiks verantwortlich
Die britischen Gewerkschaften ziehen die Schraube weiter an. Am Mittwoch haben sie ihren bislang größten Aktionstag in diesem Streik-Winter abgehalten. Annähernd eine halbe Million Lohnabhängige haben die Arbeit niedergelegt. Darunter waren Lehrer, Zivilbeamte, Zugführer, Unilektoren und Zollbeamte. Sieben Gewerkschaften haben sich an dem Streiktag beteiligt. Sie haben ihre Aktionen bewusst koordiniert, um eine größere Wirkung zu erzielen.
Die konservativen britischen Medien schrieben sogar von einem »De-facto-Generalstreik«. Das ist zwar stark übertrieben, aber tatsächlich stellt der Mittwoch eine größere Eskalation dar. Der britische Gewerkschaftsdachverband TUC sprach vom »größten Streiktag seit 2011«. Damals hatten schätzungsweise zwei Millionen Beschäftigte des Öffentlichen Diensts die Arbeit niedergelegt. Dass in mehreren Branchen koordiniert gestreikt wird, ist allerdings seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen.
Für die meisten Schlagzeilen haben die Lehrerinnen und Lehrer gesorgt. Sie haben zum ersten Mal seit sechs Jahren die Arbeit niedergelegt. In England und Wales waren rund 85 Prozent der Schulen geschlossen. Laut der Bildungsgewerkschaft National Education Union (NEU) beteiligten sich 300 000 Lehrer am Streik. Ihnen geht es in erster Linie um die Löhne. Seit dem Jahr 2010 ist die Bezahlung für die Lehrer inflationsbereinigt laufend geschrumpft. Manche von ihnen müssen inzwischen mit 13 Prozent weniger Lohn auskommen, wie eine neue Analyse des Rechnungshofs Institute for Fiscal Studies (IFS) zeigt. »Angesichts dieser Zahlen ist es vielleicht wenig überraschend, dass Schulen zunehmend Probleme haben, Mitarbeiter zu rekrutieren und zu behalten«, erklärte Luke Sibieta vom IFS.
Aber die Regierung unter Führung des konservativen Premierministers Rishi Sunak blockiert weiterhin neue Lohnverhandlungen. Sie hat lediglich die Bereitschaft signalisiert, über die Löhne im kommenden Jahr zu reden, nicht aber die Bezahlung für das Schuljahr 2022/2023 neu zu verhandeln. Sunak meint, dass eine inflationsgerechte Anhebung den »Teufelskreis« immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antreiben würde.
Bei den Disputen mit den Krankenpflegern und Rettungssanitätern vertritt die britische Regierung eine identische Haltung. Das frustriert die Führungen der Gewerkschaften. Die Regierung tue bloß so, als arbeite sie auf eine Lösung der Dispute hin, teilte Sara Gorton von der Gewerkschaft Unison mit. In ihr sind vorwiegend Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und des öffentlichen Gesundheitswesens organisiert. Unison ist mit rund 1,4 Millionen Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft in Großbritannien. Gorton warf der konservativen Regierung vor, »die Öffentlichkeit anzuschwindeln«.
Bei der Zugführergewerkschaft ASLEF ist die Stimmung nicht besser. Der stellvertretende Generalsekretär Simon Weller sagte Anfang der Woche, dass man weiter weg von einer Lösung sei als je zuvor.
Stattdessen versucht die Regierung, mit rechtlichen Mitteln gegen die organisierte Arbeiterschaft vorzugehen. Am Montag nahm die neue Streik-Vorlage, genannt »Minimalbetrieb-Gesetz« ihre vorläufig letzte Hürde im Unterhaus. Jetzt ist das Oberhaus am Zug. Das geplante Gesetz würde bei Streiks in weiten Teilen des öffentlichen Sektors einen rudimentären Betrieb vorschreiben. Es ist eine weitere Verschärfung der britischen Streik-Gesetze, die bereits jetzt zu den restriktivsten in Europa zählen.
Würden beispielsweise die Lehrerinnen und Lehrer einen Streik ausrufen, müssten sie unter dem geplanten Gesetz dafür sorgen, dass in den Schulen weiterhin unterrichtet wird – was den Arbeitsausstand weit weniger effektiv machen würde. In der vergangenen Woche schrieben 50 Bürgerrechtsorganisationen einen offenen Brief an Wirtschaftsminister Grant Shapps, in dem sie warnen, dass die »drakonische« Vorlage unter anderem gegen die Versammlungsfreiheit verstoße. Gewerkschaften und Opposition kritisieren zudem, dass streikende Beschäftigte fürchten müssten, ihre Jobs zu verlieren. Die Vizechefin der oppositionellen Labour-Partei, Angela Rayner, nannte das Gesetz den »Feuert-die-Pflegekräfte-Entwurf«.
Die Gewerkschaften haben angekündigt, die Offensive der Regierung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Der Streiktag am Mittwoch war gleichzeitig ein Aktionstag gegen die Vorlage. Tausende Menschen gingen auf Protestmärsche im ganzen Land, um unter dem Slogan »Verteidigt unser Streikrecht« gegen das geplante Gesetz zu demonstrieren.
Angesichts der verhärteten Fronten dürfte die Streikwelle noch eine Weile lang weiterrollen. Die Lehrergewerkschaft NEU hat gewarnt, dass der Disput bis zum Sommer andauern könnte, wenn die Regierung keine Lohnerhöhung in Aussicht stellt.
Ein großes Problem für die Regierung besteht darin, dass laut Umfragen die meisten Briten nach wie vor der Regierung die Schuld für das Streik-Chaos geben, und nicht den Gewerkschaften. Das liege auch daran, dass die konservativen Tories, die alle Minister stellen, so unbeliebt sind, sagt Luke Tryl vom Thinktank »More in Common«: »Die Zustimmung zur Regierung ist so gering, dass die Leute dazu tendieren, in dieser Angelegenheit nicht für das Kabinett Partei zu ergreifen.«
In früheren Zeiten hatten die Konservativen die Streiks genutzt, um die Labour-Partei, die eng mit den Gewerkschaften verwoben ist, zu diskreditieren. Doch damit hat sie keinen Erfolg mehr. Vielmehr gibt es auch Verständnis für die Streikenden. Denn viele Menschen in Großbritannien sind selbst von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen betroffen.
Seit vergangenem Frühjahr hält die Streikbewegung in dem Land an. In den vergangenen Monaten hatten bereits Streiks von zehntausenden Beschäftigten, unter anderem im Pflegesektor und bei der Post, stattgefunden. Ein Ende ist nicht in Sicht: »Nächste Woche haben wir die Rettungssanitäter, und wir haben die Krankenpfleger, dann sind die Feuerwehrleute dran«, sagte der Gewerkschaftsführer Mark Serwotka im Fernsehsender Sky News. Am Dienstag endete eine Abstimmung der Fire Brigades Union mit einem überwältigenden Votum für den Streik.
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