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Mitgehangen, mitgefangen
In »People Person« von Candice Carty-Williams, wird zu viel mit den Augen gerollt und die Verwandtschaft gefeiert
Hätte Dimple nur das verschüttete Sonnenblumenöl richtig aufgewischt. Nach einem Streit ist ihr Freund/Exfreund Kyron in ihrer Küche darauf ausgerutscht, mit dem Kopf gegen die Arbeitsplatte geknallt und liegt jetzt bewegungslos auf dem Boden. In ihrer Panik weiß Dimple sich nicht anders zu helfen: Sie ruft ihre ältere Halbschwester Nikisha an und bittet sie um Beistand. Und Nikisha bringt die weiteren Geschwister Prynce, Danny und Lizzie mit. Sie beschließen, Kyrons Körper im Schutze der Nacht loszuwerden. Warum ruft Dimple nicht die Polizei, es war doch ein tragischer Unfall? »Jede einzelne Begegnung, die sie bisher mit der Polizei gehabt hatte, war traumatisierend gewesen. Daher fürchtete Dimple die Polizei mehr als alles andere.«
Das ist der Ausgangspunkt von »People Person«, dem zweiten Roman von Candice Carter-Williams, die 2019 mit ihrem Debüt »Queenie« einen großen Überraschungserfolg hingelegt hatte. Er handelte von der Sinnsuche einer jungen Schwarzen Journalistin. Nun erzählt die 1989 geborene Autorin von fünf Schwarzen Halbgeschwistern in London. Die titelgebende »People Person« ist ihr Vater Cyril Pennington, der sich selbst so nennt. Der Roman beginnt damit, dass Cyril eines Tages beschließt, seine fünf Kinder im Alter von 9 bis 19 Jahren, die sich außer Nikisha und Prynce, die dieselbe Mutter haben, nicht kennen, spontan mit seinem Auto abzuholen, in einen Park zu fahren und ihnen die Möglichkeit geben, sich kennenzulernen. Ein erzählerischer Kniff, denn so erfahren nicht nur die Geschwister, sondern auch die Leser*innen alle Eckdaten der Protagonist*innen.
Doch aus dieser Zusammenkunft ergibt sich erst mal nicht viel. Cyril verliert schnell das Interesse, und der unbeholfene Versuch, aus den fünf eine Bande zu formen, bleibt fruchtlos. Bis sich Dimple 15 Jahre später mit dem reglosen Körper ihres Freundes/Exfreundes in der Küche wiederfindet. Was soll sie tun? Der Polizei misstraut sie, und Freund*innen hat sie auch keine, obwohl sie sich im Internet als Influencerin versucht. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als auf die Unterstützung ihrer Halbgeschwister zu hoffen.
Gemeinsam versuchen sie, die Leiche auf einer Baustelle zu entsorgen. Das Problem: Kyron ist gar keine. Kaum ist das Loch gegraben, ist er verschwunden. Tot war er nämlich nicht, nur bewusstlos. Und dann beschließt Kyron, der sich nach und nach an die Ereignisse der Nacht erinnert, Dimple um 25 0000 Dollar zu erpressen.
Auch wenn das nach einem Thriller klingt, so geht es in dem Roman doch um etwas anderes: um den Zusammenhalt der Familie, gerade weil man sich diese nicht freiwillig aussucht. »Ich habe schon sehr früh gelernt, selbst wenn die Leute aus deiner Familie nicht deine Freunde sind, bist du trotzdem für sie verantwortlich«, sagt etwa Nikisha mit Blick auf den reglosen Kyron. »Und deshalb, ja, das ist eine Unannehmlichkeit, aber wir sind alle hier, und wir machen das jetzt, weil wir Familie sind.« Ob die fünf Geschwister sich nun mögen oder nicht, auf die eine oder andere Art sind sie immer wieder auf sich zurückgeworfen und müssen sich aufs Neue miteinander auseinandersetzen. Und selbstverständlich öffnet sich irgendwann auch die zurückhaltende Lizzie, die anfangs wenig Interesse daran hat, gerade Dimple näher kennenzulernen.
Das Problem von »People Person« ist weniger der recht vorhersehbare Plot, schließlich braucht es für einen Easy Read (und das ist der Roman, denn abgesehen von subtiler Kritik an der Polizei, geht es so gut wie gar nicht um Rassismus oder Diskriminierung) keine Handlung voller überraschender Wendungen. Allerdings bleiben die Figuren recht eindimensional, allein Dimple, aus deren Perspektive der Großteil der Story erzählt wird, hat mehrere Ebenen.
Sprachlich überzeugt »People Person« ebenfalls wenig, was auch an der Übertragung ins Deutsche liegen mag. Übersetzerin Henriette Zeltner-Shane lässt viele englische Begriffe im Text, was bei »mixed-race« sinnvoll ist, bei Wörtern wie »Hard Dough Bread« aber ein wenig faul wirkt. Schlimmer sind aber Klischeeformulierungen, wie die Mutter mit dem Alkoholproblem, die natürlich »hickst«, und dass alle Figuren nahezu ununterbrochen mit den »Augen rollen« (20-mal im Buch) oder mit den »Achseln zucken« (48-mal).
Um Spaß an diesem Roman zu haben, muss man über Konstruktionen, die arg übers Knie gebrochen sind, hinwegsehen: Wieso haben die Geschwister plötzlich so viel Kontakt und entwickeln zunehmend geschwisterliche Gefühle? Und wieso haben alle immer gleichzeitig Zeit? Weil Familie hier das Wichtigste überhaupt ist. So wichtig, dass die Halbgeschwister sogar ans Totenbett und später zur Beerdigung der Oma gehen, die sie nicht oder kaum kannten, wo sich zu allem Überfluss auch noch ihre Mütter um die Gunst von Cyril streiten, der sie Jahrzehnte zuvor belogen und im Stich gelassen hatte.
Die grundlegende Message, die alle Figuren in »People Person« zu ihren Handlungen motiviert, lautet: Blut ist dicker als Wasser. Auch wenn man sich jahrzehntelang gar nicht kannte, so zählt die Tatsache, dass man miteinander verwandt ist, mehr als alles andere auf der Welt. Das wirkt doch sehr konventionell und kann von allen, die mit ihren Blutsverwandten wenig oder gar keinen Kontakt haben, angezweifelt werden.
Candice Carty-Williams: People Person. A. d. Engl. v. Henriette Zeltner-Shane. Blumenbar, 430 S., geb., 24 €.
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