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Was raus muss, muss raus
Plattenbau. Die CD der Woche: »Chimaera I« von Colin Stetson
Colin Stetson beherrscht Zirkularatmung. Das ist nicht häufig, weil Zirkularatmung sehr schwierig und vor allem sehr kräftezehrend ist. Aber es muss raus, was raus muss. In diesem Fall sind es die wirklich unerhörten Töne, die der kanadische Musiker seinen Saxofonen entringt – Alt- Bariton- und Bass-Saxofon, aber auch anderen Blasinstrumenten wie Klarinette, Flöte und Waldhorn. Physische Voraussetzung für die Musik, die hier komponiert und gespielt wird, sind konstantes Yoga- und Cardio-Training.
Man hört den Tönen die Körperkraft, die in sie eingeflossen ist, an. Wer zirkular atmen kann, kann ausdauernd Klangflächen produzieren. Und der dunkle Ambient, den Stetson spielt, klingt anders als Ambient sonst so klingt. Es macht einen Unterschied auch im Höreindruck, ob ein Ton von einem Laptop oder auch vom Anschlag einer Gitarrensaite produziert wird. Oder ob er eben aus einem Saxofon kommt, in das einer, während er spielt, immer wieder hineinsingt und -schreit.
Die Resultate sind immer wieder atemberaubend, und dass bislang niemand sonst eine derartige Spielweise entwickelt hat, mag vor allem daran liegen, dass das schlicht zu anstrengend ist. Peter Brötzmann zum Beispiel spielt auch extremistisch, aber da ist die Struktur eher eine schnelle Folge von Sprints, während Stetson im Dauerlauf-Modus ist und sich trotzdem nicht auf seine einmal gefundene Spielweise zurückzieht. Die Musik auf den bisher erschienenen Alben ist vielgestaltig, von der tendenziell jazzigen »New History Warfare«-Trilogie über den Bombast-Postrock der Górecki-Neuinterpretation »Symphony of Sorrowful Songs« bis hin zu den spröden Skizzen auf »All This I Do For Glory«.
Auf zwei kürzlich erschienenen Alben Stetsons kann man nachhören, in welchen Regionen hier jemand sein ganz eigenes Sound-Universum weiter ausbaut, mit Hammer, Säge und Amboss sozusagen. Alles an der Musik auf »Chimæra I« ist massiv und schwer. Zwei je zwanzigminütige Stücke, nur mit dem Saxofon und ohne Overdubs eingespielt. Das erste, »Orthrus«, beginnt wie regulärer Dark Ambient, mit Oberton-artigen Patterns und auf- und absteigenden Drones. Nach zwei Dritteln eskaliert das Ganze dann in Kreischen und Dröhnen. »Cerberus« nimmt eine sanftere Kurve und endet in erschöpftem Wohlklang.
Diesen Aspekt der Musik Colin Stetsons – also von Noise und Weirdness infizierten Wohlklang – bekommt man auf seinem Soundtrack zur schwarzen Horrorkomödie »The Menu« aus dem vergangenen Jahr noch prägnanter und sozusagen spiegelglatter vorgeführt. Stetson hat sich in den letzten Jahren, spätestens seit seinen wirklich beängstigenden Soundtracks zu »Hereditary« (2018) und dem Netflix-Fortsetzung von »Texas Chainsaw Massacre«, als einer der interessantesten Filmmusik-Komponisten zurzeit etabliert.
Die Stücke sind üppiger instrumentiert, mit Streichern und Synthesizer-Flächen vor allem und erinnern immer wieder an den opulenten Minimalismus der Filmmusiken Michael Nymans. »The Menu« ist das erste Album Stetsons, auf dem die Musik nicht schroff wirkt, sondern einladend und süß. Verbunden mit der Ahnung, dass sich unter der hübschen Oberfläche die Kannibalen verbergen.
Colin Stetson: »Chimaera I« (Room40)
Colin Stetson: »The Menu (Original Motion Picture Soundtrack)«
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