- Wirtschaft und Umwelt
- 30 Jahre EU-Binnenmarkt
Zwist und Gemeinsamkeit
Der künftige Umgang mit Fiskalregeln und Wirtschaftssubventionen beschäftigt den EU-Gipfel
Zum Feiern dürfte den Ratsmitgliedern nicht zu Mute sein, obwohl 30 Jahre Europäischen Binnenmarkt einen Anlass bieten würden. Stattdessen haben es die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf ihrem am Donnerstag beginnenden Brüsseler Sondergipfel wirtschaftspolitisch mit einem dicken Brocken zu tun: Sie müssen eine gemeinsame Antwort auf das viel kritisierte US-Förderpaket für die dortige Industrie finden. Viele Subventionen sind daran geknüpft, dass profitierende Unternehmen US-Produkte verwenden oder selbst in den USA produzieren, weshalb man in der EU Wettbewerbsnachteile befürchtet. Mit dem bislang vagen EU-Plan zur Förderung grüner Technologien, dem »Green Deal Industrial Plan«, sollen diesseits des Atlantiks bis 2030 mehr als 170 Milliarden Euro an Subventionen zusätzlich in den Binnenmarkt fließen. Der industriepolitische Streit auf dem Gipfeltreffen dürfte sich weniger um den grünen Masterplan als solchen drehen, als um dessen Finanzierung. Müssen die EU und ihre Mitgliedsländer neue Schulden aufnehmen?
Gerade hierbei prallen die Auffassungen der beiden wichtigsten EU-Industriemächte Deutschland und Frankreich aufeinander. Ein Streit, der die Diskussionen schon seit dem Startschuss zum Europäischen Binnenmarkt prägt. Auf dem Geburtstagsgipfel wird aber wohl die Öffnung der internen Grenzen für Waren zum 1. Januar 1993 gepriesen werden, die der EU einzigartigen Wohlstand beschert habe. 440 Millionen Verbraucher profitierten heute von einer größeren und günstigeren Auswahl von Produkten. Der Handel innerhalb der EU hat sich seither verfünffacht. Millionen Menschen leben oder arbeiten in einem anderen Unionsstaat. 24 Millionen Unternehmen produzieren in der EU rund 15 Prozent aller auf der Welt hergestellten Güter.
Linke Ökonomen warnen jedoch vor der exzessiven Anwendung der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes: freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. In diesem neoliberalen Wirtschaftsmodell kämen Beschäftigung und soziale Rechte zu kurz. Kritisiert wird auch die nur relative Konvergenz: Zwar wuchsen die meisten armen Länder der EU schneller als die reichen. Doch die Einkommensabstände nahmen zu – »und damit auch die Anreize für Migration und Produktionsverlagerung«, heißt es selbst aus der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Zugleich ist infolge des Aufstiegs Chinas und anderer asiatischer Schwellenländer der Weltmarktanteil deutlich gesunken.
Die kontroversen Positionen zwischen Deutschland und Frankreich sind ein Grund dafür, dass dem Binnenmarkt weiterhin eine gemeinsame Finanzpolitik fehlt. Diese bleibt Ländersache. Und anders als zeitweilig in Brüssel erhofft, beharren noch sieben Mitgliedsländer auf ihrer nationalen Währung. Immerhin wurden in der Corona-Pandemie die Maastricht-Kriterien zeitweilig gelockert, sie waren einst vor allem auf Druck Deutschlands eingeführt worden. Diese geben Obergrenzen für die Neu- und die Gesamtverschuldung vor, sehr zum Ärger von Ländern wie Frankreich, die die Fiskalpolitik auch in den Dienst der Konjunkturstärkung stellen. Kein Wunder, dass schon vor Corona die Euro-Staaten – übrigens auch Deutschland – bis zur Corona-Pandemie drei Dutzend Mal gegen die Defizitregeln verstoßen haben. Straflos.
Auf dem EU-Gipfel wird daher auch um dauerhaft mehr Flexibilität gerungen werden, denn Regeln, an die sich aus gutem Grund kaum jemand hielt, machen wenig Sinn. Dadurch sollen auch wieder mehr Wirtschaftssubventionen, die im Binnenmarkt lange verpönt waren, möglich sein. Indes mahnen zahlreiche EU-Staaten, dass außer Deutschland und Frankreich kaum ein Land die nötigen Mittel besitze, um im großen Stil zu fördern. Die Antwort auf die US-Subventionen droht, Binnenmarkt und Euro zu überfordern.
Deshalb seien gemeinsame Schulden nötig, argumentiert der französische Binnenmarktkommissar Thierry Breton, unterstützt vom belgischen Ratspräsidenten Charles Michel und dem italienischen EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, Paolo Gentiloni. Widerstand gegen den vorgeschlagenen EU-Schuldenfonds kommt wieder mal aus Deutschland vom FDP-Finanzminister, traditionell unterstützt von den Niederlanden. Immerhin sperrt sich Bundeskanzler Olaf Scholz nicht vollständig gegen gemeinsame Schulden, die es den wirtschaftlich schwächeren Ländern erlauben würden, sich ähnlich günstig Geld zu besorgen wie Deutschland.
Die Regierungschefs werden während ihres zweitägigen Ratstreffens in Brüssel nach einem Kompromiss suchen, der zugleich als starke Antwort auf die US-Pläne gedacht ist. Geht es um gemeiname Wirtschaftsinteressen, ziehen Deutschland und Frankreichs dann doch an einem Strang. Die Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bruno Le Maire haben vor dem EU-Gipfel in Washington vorgefühlt, was noch so geht, und warben dort für eine europafreundliche Anwendung des Gesetzes. Erreicht haben sie nach eigenen Angaben Zusagen für mehr Transparenz über das Ausmaß staatlicher Unterstützung in den USA.
Einig ist man sich dann auch, die undankbaren Aufgaben nach Brüssel zu delegieren: Die EU-Kommission soll konkrete Zugeständnisse mit Washington aushandeln sowie nach dem Sondergipfel eine grundlegende finanzielle Analyse vornehmen und konkrete Vorschläge bis zum regulären Treffen des Europäischen Rates Ende März vorlegen.
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