- Wirtschaft und Umwelt
- Standortpolitik
Die neue Leitindustrie
Die Pharmabranche will bessere Rahmenbedingungen, die Bundesregierung scheint dazu bereit
Das Unternehmen Biontech machte mit seinem Impfstoff in der Corona-Pandemie Milliarden-gewinne. Jüngst äußerte das Unternehmen weitere Absichten zum Reinvestment. Angekündigt wurde »eine strategische Partnerschaft mit der Regierung des Vereinigten Königreichs«. Im britischen Cambridge soll noch im ersten Quartal 2023 in ein Forschungs- und Entwicklungszentrum investiert werden, bis zu 70 Wissenschaftler werden dort an klinischen Studien mit personalisierten Immuntherapien arbeiten.
Möglicherweise aufgeschreckt durch diese Ankündigung besuchte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor einigen Tagen den Biontech-Standort in Marburg. Ende dieses Jahres soll dort die erste eigene Plasmid-Produktion von Biontech im kommerziellen Maßstab starten. Plasmide sind ringförmige DNA-Moleküle, die für die Forschung zu mRNA-basierten Medikamenten gegen Krebs und Infektionskrankheiten benötigt werden. Also stärkt das Mainzer Unternehmen mit dieser Fertigung den Industriestandort Deutschland. Offensichtlich schwante dem Kanzler trotzdem, dass Ugur Sahin und Kollegen mit den Bedingungen hierzulande nicht völlig zufrieden sein können. Scholz verwies auf »viele konkrete Gesetzesvorhaben«, die in Zukunft die Forschung in Deutschland erleichtern sollten. In Bezug auf die aktuell möglich gemachten schnellen Veränderungen in der Energie-Infrastruktur sprach der Politiker von einem neuen »Deutschland-Tempo«, das es jetzt auch für den Medizinstandort Deutschland geben solle.
Zuvor hatte Scholz den Begriff schon bei einem Besuch bei Bayer in Berlin benutzt. Dort soll noch 2023 ein Zentrum für Zell- und Gentherapien entstehen. Offenbar könnte für die Industrie bei der Verbesserung von Rahmenbedingungen einiges zu holen sein.
Sensibel für solche Signale zeigte sich die Pharmabranche am Dienstag bei einer Veranstaltung in Berlin. Mit Impulsreferaten und Podiumsdiskussion wurde der »Fortschrittsdialog Gesunde Industriepolitik« eröffnet. Als Einlader firmieren einige größere Pharmaunternehmen von Amgen, Bayer und Boehringer Ingelheim über Gilead bis hin zu Novartis und Roche. An erster Stelle der Gastgeber steht jedoch die IG BCE, die Branchengewerkschaft, die Beschäftigte in Bergbau, Chemie und Energiewirtschaft vertritt – und auch jene im Pharmabereich. Der Dialog wird aber hier nicht nur zwischen Gewerkschaften und Unternehmen geführt, sondern auch mit der Schirmherrschaft von Gabriele Katzmarek (SPD) auf eine politische Ebene gehoben, denn die Schirmdame sitzt seit 2013 im Bundestag und seit 2014 auch in dessen Wirtschaftsausschuss.
Die Warnung, dass aus dem neuen Deutschland-Tempo des Kanzlers schnell eine Deutschland-Bremse werden könnte, wenn der gesetzliche Rahmen nicht stimmt, gab es bei der Berliner Veranstaltung mehrfach. Der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis sieht den Standort unter Druck und plädiert für eine neue Positionierung der Industriepolitik. Als ein Problem der Pharmaindustrie bezeichnete es der Gewerkschafter, dass die Gesundheitskosten mit ihrem Löwenanteil, nämlich seitens der gesetzlichen Krankenkassen, umlagefinanziert seien. »Man muss über Beiträge reden«, meinte Vassiliadis und bezeichnete es als absurd, dass diese nicht steigen dürften.
Inhaltlich war das eine von mehreren Vorlagen für die Hersteller, ihre Wünsche zu formulieren. Zumindest auf der Veranstaltung wurde das durch die Vertreter der »industriellen Gesundheitswirtschaft«, wie sich die Branche dort selbst nannte, zu großen Teilen noch im Vagen belassen. Jedoch fielen wichtige Stichworte: So geht es um Zugang zu Gesundheitsdaten und die Bedingungen für klinische Studien. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller hatte das bereits zuvor deutlich angesagt: Dringend verbessert werden müssten in Deutschland die Möglichkeiten für die industrielle Forschung, anonymisierte Daten von Patientinnen und Patienten auszuwerten.
Genau um die Patientendaten geht es aktuell auf deutscher und europäischer Ebene. Im letzten Jahr hatte die EU-Kommission einen Entwurf zur Schaffung eines europäischen Raumes für Gesundheitsdaten vorgelegt. Damit sollen diese Patientendaten EU-weit vernetzt werden. Aber nicht nur das, diese sollten auch in diesem Raum zugänglich werden für Industrie, Forschung und Behörden, sofern Patienten den Zugang nicht aktiv einschränken. In Deutschland wäre im Vorlauf ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz nötig. Hier kündigt sich ein Tauziehen um das richtige Maß sowohl für den Schutz als auch die Nutzung der Daten an.
In Sachen klinischer Studien fällt Deutschland nach Angaben von Roche-Vertreter Hagen Pfundner zurück. Er sieht noch zu viele Regularien, die »den Fortschritt bremsen«. Daniel Steiners, Geschäftsführer der Bayer Vital GmbH, lobt in diesem Zusammenhang zwar die Intention, mit nur einem Antrag eine Studie in allen EU-Ländern registrieren zu können, allein: »Das Portal funktioniert nicht.« So bleiben noch genug innerdeutsche und europäische Hürden für das neue Ziel der Pharmabranche, hierzulande Leitindustrie zu werden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.