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Junge, Alte: Alle sollen mehr arbeiten
Im Dienste des Wachstums: Die Regierung in Frankreich will nicht nur wegen der Kosten für den Sozialstaat das Renteneintrittsalter anheben
In Frankreich haben in den vergangenen Tagen wieder Hunderttausende gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron demonstriert. Knapp zwei Drittel der Bevölkerung ist laut Umfragen gegen die geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters. Die Regierung verteidigt diese Erhöhung mit dem Argument, nur dadurch sei die Finanzierung des Rentensystems zu gewährleisten. Das ist allerdings nur ein Aspekt. Denn die Rentenreform ist Teil einer Gesamtstrategie der Regierung mit dem Ziel, möglichst alle Franzosen und Französinnen mehr arbeiten zu lassen – die Jungen, die Alten und alle dazwischen.
Die Regierung in Paris will das Renteneintrittsalter bis zum Jahr 2030 von 62 auf 64 Jahre anheben. Um volle Rentenbezüge zu erhalten, muss man künftig 43 Jahre gearbeitet haben statt bisher 41,5 Jahre, so der Plan. Laut Arbeitsminister Olivier Dussopt ist dies notwendig für das »Überleben des Rentensystems«. Bliebe alles beim alten, so die Regierung, würde sich in der Rentenkasse in den nächsten Jahren ein Defizit von 15 bis 20 Milliarden Euro auftürmen. Das Vorhaben Macrons geht allerdings über die Sicherung der Rentenkasse hinaus und zielt auf eine grundlegendere gesellschaftspolitische Veränderung, die der Präsident in seiner Neujahrsansprache so formulierte: »Wir müssen mehr arbeiten.«
Nicht nur in Frankreich, in fast allen Industrieländern versucht die Politik, die nationale Arbeitskraftreserve zu heben: Erwerbslose, nicht berufstätige Frauen, Jugendliche und Ältere sollen dem Arbeitsmarkt zugeführt werden, um dem demografischen Wandel entgegenzuwirken. Denn jede Stunde Arbeit, die die Unternehmen nachfragen, aufgrund von Arbeitskraftmangel aber nicht erhalten, entspricht einem Verlust an Wirtschaftsleistung. In einem System, das auf Wachstum beruht, ist entgangenes Wachstum gleichbedeutend mit Kosten.
»Das Potenzial an Erwerbsfähigen ist ein wichtiger Faktor für das Wachstumspotenzial eines Landes«, erklärt die DZ Bank. Als warnendes Beispiel gilt international Japan, wo die Erwerbsbevölkerung bereits in den 1990er Jahren zu schrumpfen begann. Seitdem »hat sich als Konsequenz das Potenzialwachstum – also das Wirtschaftswachstum, das unter Auslastung der Produktionskapazitäten auf Dauer erreichbar ist – deutlich verlangsamt«, so die Commerzbank.
Dieses Schicksal droht auch Europa. Eine Analyse im Auftrag des EU-Parlaments vom September 2019 erklärt den Mechanismus: »Alterung und die demografische Wende wirken negativ auf alle drei Treiber des langfristigen Wirtschaftswachstums: potenzielle Erwerbstätige, Kapitalakkumulation und Produktivität. Weniger Erwerbsfähige senken die Aussichten für das Wirtschaftswachstum. Geringeres Wachstum mindert die profitablen Investitionsmöglichkeiten und die Alterung führt zu geringerer Produktivität.«
Frankreich bleibt hinter Deutschland zurück
Zum Wohle seines Wachstumspotenzials will sich Frankreich die Nicht-Arbeitenden künftig nicht mehr leisten. »Die Rentenreform ist zentraler Bestandteil des Ziels der Regierung, die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer zu erhöhen und Vollbeschäftigung zu erreichen«, erklärte Marc Ferracci, Arbeitsökonom und Mitglied von Macrons Partei der Agentur Reuters. Zwar ist die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen in Frankreich seit 2002 von elf auf 36 Prozent gestiegen. Aber beim Wettbewerber Deutschland legte sie von 23 auf über 60 Prozent zu. Während in Frankreich 56 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig sind, sind es in Deutschland 72 Prozent. Während in Frankreich ein Mann durchschnittlich 21,5 Jahre als Rentner lebt, sind es in Deutschland nur 18,6 Jahre.
Um Frankreich auf den Stand der Wettbewerber zu hieven, will Paris nun einen »Senior Index« einführen, um den Anteil der arbeitenden Alten zu kontrollieren. Nach Berechnungen der Allianz könnte eine Anhebung des Rentenalters dazu führen, dass dem französischen Arbeitsmarkt im Jahr 2050 zusätzlich 1,6 Millionen Personen zur Verfügung stehen.
Auch an anderen Stellschrauben wird gedreht: Die Regierung in Paris hat die Erwerbslosenversicherung reformiert. Auf die Arbeitslosen kommen Kürzungen zu, die den Druck zur Arbeitsaufnahme erhöhen sollen – insbesondere in Zeiten niedriger Arbeitslosigkeit. Sinkt diese unter neun Prozent, schrumpft die Dauer der Arbeitslosenunterstützung um ein Viertel. Nach Angaben der Arbeitslosenversicherung Unedic müssen 840 000 Personen – 38 Prozent aller Erwerbslosen – mit einer Senkung ihres Arbeitslosengeldes um durchschnittlich 20 Prozent rechnen.
Daneben hat Paris das Ausbildungssystem reformiert. Auf Jugendliche kommen längere Praktika mit weniger Unterricht zu. Erhöht werden soll damit die Zahl der Praktikanten, die vergangenes Jahr bei fast einer Million lag. Laut Gewerkschaften erhielten dadurch die Unternehmen billigere Arbeitskräfte bei gleichzeitig schlechterer Qualität der Ausbildung. Lob erntet Macron dagegen vom Internationalen Währungsfonds: Die Reformen würden »dabei helfen, das Arbeitsangebot zu stärken«, so der Fonds, die Regierung habe »deutliche Fortschritte dabei gemacht, das Wachstumspotenzial der Wirtschaft zu erhöhen und gleichzeitig die Kosten zu senken«.
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