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Richtungsentscheidung in Berlin
Am Sonntag geht es in der Hauptstadt um mehr als die Korrektur einer Pannenwahl. Und Die Linke will endlich ihre Negativserie beenden
Den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zitiert Karl Marx mit der Bemerkung, »dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen«. Und Marx fügt hinzu: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Wahrscheinlich war die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 kein weltgeschichtliches Ereignis, nicht einmal, wenn man die gleichzeitig abgehaltene Bundestagswahl und das Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co enteignen hinzurechnet. Allerdings: Überregionales Aufsehen erregte diese Wahl schon. Wegen schwerer organisatorischer Mängel und der Beeinträchtigung des Wahlrechts war sie Gegenstand von Kritik, Hohn und Spott, Anlass für eine Verfassungsklage und Auslöser für einen in Deutschland einmaligen Vorgang: Die Wahl wird komplett wiederholt. Und internationale Beobachter vom Europarat werden sich die Sache am Sonntag genau ansehen.
Vielleicht können sie dabei auch die Frage beantworten, ob es sich diesmal um eine Farce handelt. Aber die hat ja eigentlich schon vor fast eineinhalb Jahren stattgefunden. Mit dem Ergebnis, dass ein Senat aus SPD, Grünen und Linkspartei ans Ruder kam, der sich nun erneut dem Wählervotum stellen muss. Könnte sein, dass alles so bleibt wie bisher, aber ein Selbstläufer ist das keineswegs.
Denn da sind noch einige Rechnungen offen. Beispielweise im Kampf um die Führung in der Landesregierung. Vor der letzten Wahl im Spätsommer 2021 lagen die Grünen lange und teils sehr deutlich vorn; ihre Spitzenkandidatin Bettina Jarasch sah sich schon als Regierende Bürgermeisterin. Doch im Schlussspurt des Wahlkampfs zog die SPD vorbei, und seitdem ist Jarasch Senatorin, die Sozialdemokratin Franziska Giffey aber Regierende Bürgermeisterin. In den letzten Umfragen lagen die beiden Parteien sehr dicht beieinander, zuletzt verloren die Grünen etwas an Boden.
Es wäre eine spannende Frage, wie sich die Politik des rot-grün-roten Senats verändert, wenn SPD, Grüne und Linke im Regierungsbündnis zusammenbleiben, aber mitten in der Wahlperiode die Führung wechselt. Auch das wäre ein Vorgang, den es noch nicht gab. Der zudem an Brisanz gewinnt, weil die politischen Bedingungen sich seit der missglückten Wahl vom September 2021 gründlich verändert haben: Damals gab es noch nicht den Ukraine-Krieg; die Zahl der Flüchtlinge, die in Berlin untergebracht werde müssen, ist drastisch gestiegen. Die Lebenshaltungskosten sind durch die Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland und die Inflation nach oben geschnellt, was das Land zu Entlastungs- und Hilfsprogrammen zwingt. Und die Klimafrage stellt sich in unverminderter Schärfe, was nicht nur an den Protestaktionen der Letzten Generation ablesbar ist.
Womöglich aber bleibt die Frage eines Führungswechsels innerhalb von Rot-Grün-Rot eine rein theoretische. Denn anders als bei der Abgeordnetenhauswahl 2021 liegt nun die CDU nicht etwa gleichauf mit SPD und Grünen, sondern zuletzt klar in Front. Das verdankt sie nicht ganz unmaßgeblich dem Bundestrend der CDU, die mit Friedrich Merz an der Spitze eine Rückkehr zum straffen Konservatismus betreibt. Die Berliner CDU kann jedenfalls auf das beste Ergebnis seit mehr als 20 Jahren hoffen – seit sie nach dem Bekanntwerden des gigantischen Bankenskandals faktisch zusammenbrach und der Stadt einen unglaublichen Schuldenberg hinterließ.
Ihren Wahlkampf betreibt die CDU unter anderem mit dem konservativen Evergreen Innere Sicherheit und einer ordentlichen Portion Autofahrer-Lobbyismus. Ihr Spitzenkandidat Kai Wegner hat schon mal seinen Anspruch auf Bildung einer neuen Landesregierung angemeldet, wobei er mit AfD, Linkspartei und möglichst auch mit den Grünen nichts zu tun haben will – eine Abneigung, die teilweise auf Gegenseitigkeit beruht. Obwohl man auf diesem Gebiet manches für möglich halten kann. Schwarz-Grün ist längst ein Normalfall in Deutschland; in nicht weniger als sechs Bundesländern sitzen CDU und Grüne derzeit gemeinsam in der Regierung.
Die Frage ist, wer bereit wäre, ernsthafte Koalitionsverhandlungen mit dieser CDU zu führen. Die FDP sicherlich, die sich in Berlin als eine Art Kleinbürgerguerilla inszeniert, aber sie allein ist zu schwach. Bleibt die SPD, deren Spitzenkandidatin Giffey man durchaus die eine oder andere inhaltliche Nähe zum Programm der CDU zuschreiben darf. Unter anderem hat sie nicht die geringste Lust, den erfolgreichen Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« umzusetzen, für den sich als einzige Partei Die Linke ernsthaft eingesetzt hat. Auch Wegner möchte den großen Immobilienkonzernen höchstens in Form von netten Gesprächen und Steuererleichterungen für den sozialen Wohnungsbau näher treten.
Viel könnte davon abhängen, ob die SPD bei der Wahl am Sonntag wieder vor den Grünen durchs Ziel geht. Ein solches Ergebnis dürfte Giffey bestärken, Chefin in einem rot-grün-roten Senat zu bleiben. Sollten aber die Grünen vor der SPD liegen, könnte sich Giffey aussuchen, ob sie lieber die Stellvertreterin bei den Grünen oder bei der CDU werden will. Gewiss entscheidet das nicht Giffey allein, und in Teilen der Berliner SPD gibt es eine heftige Aversion gegen die CDU, aber diese würde den Sozialdemokraten weit entgegenkommen, um nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder an die Macht zu gelangen.
Insofern steht am Sonntag in Berlin nicht einfach die Wiederholung einer fehlerhaften Wahl an, sondern eine Richtungsentscheidung: Blinkt die Hauptstadt weiterhin wenigstens halb links, stehen weiter soziale und ökologische Fragen weit oben auf der Tagesordnung – oder gibt es eine Rückkehr zu den unseligen Zeiten der Großen Koalition aus den 90ern? Das wird nicht unwesentlich auch vom Ergebnis der Linkspartei abhängen, die gar nicht nebenbei endlich wieder mal ein Erfolgserlebnis bei Wahlen feiern will. Das hat sie dringend nötig, denn schaut man zurück, muss man lange nach dem letzten wirklichen Wahlerfolg suchen: Es war der sensationelle 31-Prozent-Wahlsieg der Thüringer Linken im Herbst 2019. Seitdem gab es reihenweise Misserfolge bei Landtagswahlen im Westen – abgesehen von den Stadtstaaten Hamburg und Bremen – und einen Trend im Osten, der in Richtung Einstelligkeit zeigt. In den meisten ostdeutschen Bundesländern musste sich Die Linke zuletzt mit wenig mehr als zehn Prozent begnügen; in Mecklenburg-Vorpommern reichte es nicht einmal dazu.
Auch in Berlin geben die Umfragen der Linken nur elf bis zwölf Prozent. Ihr Frontmann Klaus Lederer war 2021 noch mit dem Anspruch des Bürgermeisterkandidaten angetreten; davon war in den letzten Wochen keine Rede mehr. Die Frage, ab wann man von einem Erfolg sprechen darf, kann gewiss unterschiedlich beantwortet werden. Es dürfte sich jedoch ein weiteres Mal bewahrheiten, dass Die Linke (wie vormals die PDS) als kleinerer Regierungspartner wahlpolitisch nicht gewinnt, sondern fast immer verliert, weil ein Teil der Anhängerschaft ihr die Kompromisse in Koalitionen krumm nimmt. Hinzu kommen die Auseinandersetzungen um den Kurs der Gesamtpartei, um ihre Positionen zu Migration, der Coronakrise und dem Ukraine-Krieg. Zwar sagte die Linke-Landesvorsitzende Katina Schubert neulich, Sahra Wagenknecht habe in Berlin keinen Einfluss; aber der mit ihr verbundene Richtungsstreit ist natürlich auch bei Berliner Linke-Mitgliedern und -Wählern allgegenwärtig.
Und der Linkspartei macht noch etwas anderes zu schaffen: Ihre einstigen Hochburgen im Osten sind meist keine mehr. Vorbei die Zeit, da die PDS in ostdeutschen Großstädten zuverlässig 30 und mehr Prozent holte. Vorbei auch die Zeit, da bestimmte Wahlkreise gewissermaßen als Erbhöfe galten. Bei der letzten Bundestagswahl verlor Petra Pau, die fünfmal in Folge den Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf gewonnen hatte, ihr Direktmandat. Die Gründe sind vielfältig: die alternde Mitgliedschaft, die schwindende Kampagnenfähigkeit, der demografische Wandel in den einst rein ostdeutsch geprägten Stadtteilen. Ein Vergleich verdeutlicht die Entwicklung: Bei den Berlin-Wahlen 1995 und 2021 erzielten die PDS bzw. die Linkspartei mit 14,7 bzw. 14,1 Prozent sehr ähnliche Ergebnisse. Die Zusammensetzung unterscheidet sich allerdings gravierend: Hatte die PDS 1995 im Ostteil der Stadt 36,4 und im Westen 2,1 Prozent, waren es 2021 im Osten nur noch 19,4 (so wenig wie noch nie seit 1990), im Westen dagegen 10,1 Prozent. Das heißt: Was Die Linke im Osten verliert, gewinnt sie im Westen dazu – im besten Falle. Im schlechteren Fall – wie bei der letzten Bundestagswahl – bleibt unterm Strich ein dickes Minus.
Ob der Berliner Linken jetzt ein Ergebnis gegen diesen Trend gelingt, weiß man am Sonntagabend. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey gelobte hoch und heilig, für einen korrekten Wahlgang zu sorgen. Weit über 43 000 ehrenamtliche Wahlhelferinnen und -helfer stehen bereit, auch angelockt durch das deutlich erhöhte »Erfrischungsgeld«. Wenn alles ausgezählt ist, hat das Bundesverfassungsgericht immer noch das letzte Wort. Denn es ließ zwar die Wahl an diesem Sonntag zu, schreitet aber erst später zur inhaltlichen Prüfung der Beschwerden dagegen. Wenn es ganz blöd läuft, können die Richter neben der Urteilsbegründung gleich noch die Steigerungsstufe von Tragödie und Farce mitteilen.
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