- Kultur
- NS-Täterschaft
»Die ungeheuerliche Bruchlosigkeit der deutschen Geschichte«
Die »68er« waren die Kinder der Nazis - und einige taten etwas dagegen. Darunter Thomas Harlan, Sohn des Regisseurs von »Jud Süss«. Ein Tagungsbericht
Mein Vater war ein Mordinstrument.» Wie der Titelsatz ist auch dies ein Zitat von Thomas Harlan, dem ältesten Sohn des nationalsozialistischen Starregisseurs Veit Harlan, der unter anderem für das antisemitische Machwerk «Jud Süß» aus dem Jahr 1940 verantwortlich war. Mit dem jungen Harlan, von Beruf Schriftsteller, Filmregisseur und als Aktivist Holocaustforscher, befasste sich Ende Januar eine Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin. Sie fokussierte, wie der Titel «Thomas Harlans Täterliteratur» nahelegt und die Organisatoren Chris Wilpert und Clemens Böckmann in ihrem Einführungsvortrag noch einmal betonten, weniger auf die Person Harlans als auf seine literarische Ästhetik.
Einige biografische Eckpunkte wurden dennoch genannt und hier zeigt sich Harlan schon bei wenigen Stichworten als durchaus schillernder Charakter. In den 50er Jahren bereiste er gemeinsam mit dem cholerischen Frauenhasser Klaus Kinski Israel und in den 60er Jahren finanzierte ihn zeitweise der italienische Kommunist, Millionenerbe und Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Harlan selbst unterhielt weitreichende Kontakte zur west- und osteuropäischen Linken, sein Verhältnis zur kommunistischen Partei Polens allerdings war – nach seinen extensiven Recherchearbeiten über die nationalsozialistischen Vernichtungslager in den Nachkriegsjahrzehnten – «zerrüttet». Allein Letzteres wäre eine genauere Betrachtung wert, scheint sich hier doch eine typische Gemengelage des 20. Jahrhunderts wie unter dem Brennglas abzuzeichnen: Ein kommunistischer Antifaschist mit der Absicht, deutschen Tätern in der Bundesrepublik den Prozess zu machen, überwirft sich mit der Regierung eines Ostblockstaates. Im Literaturforum ging es jedoch um den literarischen Teil der Harlanschen Auseinandersetzung mit Shoah und Täterschaft in Form der Romane «Heldenfriedhof» (2011) und «Rosa» (2000).
Antifaschistische Wühlarbeit
Thomas Harlan befasste sich also mit den nationalsozialistischen Tätern. Dies bedeutete per definitionem die direkte Konfrontation mit dem eigenen Vater – ein Schritt, den auch unter den «68ern» im eigenen Familienkontext nur eine Minderheit zu gehen bereit war. Die konkrete Form dieser familiären Auseinandersetzung war nicht Gegenstand der Tagung, wohl aber Harlans Wühlarbeiten zum Genozid an den polnischen Jüdinnen und Juden, insbesondere den Vernichtungslagern Sobibor, Majdanek, Treblinka und Belzec sowie Chelmno/Kulmhof. Die Ergebnisse seiner Recherchearbeiten übergab Harlan als Beweismaterial seinem Freund Fritz Bauer. Es besteht kein Zweifel daran, dass Harlan damit am Zustandekommen der Prozesse, die Bauer als hessischer Staatsanwalt in der BRD gegen NS-Täter führen konnte, direkt beteiligt war.
Mit der «Aktion Reinhardt» (so die Tarn-Bezeichnung der Nazis für die systematische Ermordung der polnischen Juden) beschäftigte sich auch das erste Panel der Tagung unter dem Titel «Umgang mit NS-Tätern und -Täterinnen im Postnazismus». Vor allem ging es hier um das noch weniger bekannte Konzentrationslager San Sabba, das die SS 1943 im italienischen Triest eingerichtet hatte und das den Schauplatz für Harlans «Heldenfriedhof» darstellt. Die Historikerin Sara Berger betonte in ihrem Vortrag unter anderem die Unterbelichtung der «T4-Aktion» und der Reinhardt-Lager in der Entwicklung der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie gegenüber Auschwitz, das seit Jahrzehnten als alleinige Chiffre für die Shoah im Zentrum des Holocaust-Gedenkens steht. Der Einbezug einer historiografischen Perspektive – leider eher ungewöhnlich für einen literaturwissenschaftlichen Kontext – tat der Orientierung im Gegenstand ausgesprochen gut. Berger brachte zudem eine geschlechtersensible Perspektive ein, die der Tagung an anderen Stellen fehlte; sie sprach in Bezug auf die Täter, etwa die «Experten der Vernichtung» der T4-Aktion (nicht Angehörige der SS, sondern «eigenständige Tätergruppen»), durchweg dezidiert von Männern.
Auf eine der Leitfragen Thomas Harlans, wie «aus Menschen Instrumente» werden könnten, die auch aus dem Publikum noch einmal gestellt wurde, entgegnete die Historikerin ebenfalls ganz richtig: Die Täter zu bewusstlos Ausführenden zu erklären, ist eben auch schon wieder eine Entlastungserzählung; sie waren ja eben doch Menschen. Durch die Präsentation historischer Materialien in diesem Panel wurde auch Thomas Harlans Werk als dokumentarisches erkennbar. Zu seiner Literatur nahmen alle drei Podiumsteilnehmer*innen allerdings eine durchaus ambivalente Haltung ein: Der Roman «Heldenfriedhof» bewege sich jenseits der Verstehbarkeit. Berger bezeichnete den Roman gar als «Zumutung», formulierte gar auch eine literarische Funktionsbestimmung: «Was lernt man aus diesem Buch, wenn man kein Vorwissen hat?»
Poetologie der Überwältigung
Angesichts dieser Einschätzung lässt sich eine Frage aufwerfen. Harlan war zweifellos ein politischer Mensch, der die Strafverfolgung von Nazis in der BRD beförderte und sich damit gegen die bundesrepublikanische Staatsräson stellte. Aber war er auch ein politischer, gar ein – immerhin sah er sich als Kommunist – parteilicher Schriftsteller? Zur Auseinandersetzung mit dieser Frage bot sich der zweite Tagungstag mit zwei literaturwissenschaftlichen Perspektiven auf Harlan an. In einem wiederum am ersten Tag präsentierten Filmausschnitt hatte Harlan selbst erklärt, die Aneinanderreihung von Dokumenten ließe zwar die Sache klar aufscheinen, aber nicht die für sie verantwortlichen Personen. Was bedeutet das für seine Poetologie? Gelingt es ihm in seiner Literatur, konkrete Täterpersönlichkeiten als verantwortlich zu zeichnen? Abschließend beantwortet wurde diese Frage nicht, aber zwei verwandte Themenkomplexe zogen sich als rote Fäden durch die Panels und Diskussionen der Tagung: die Frage nach der Verstehbarkeit der Shoah, hier insbesondere von NS-Täterschaft, und ihre – formale und inhaltliche – Verarbeitung im literarischen Werk.
Die Literaturwissenschaftlerin Daniela Henke bezog sich auf das Konzept der Darstellbarkeit im ersten Panel des Tages anhand von «Heldenfriedhof» mit dem Begriff der «verweigerten Erzählbarmachung». Programmatisch hatte sie ihrem Vortrag ein Zitat aus Theodor W. Adornos Essay «Engagement» vorangestellt. In diesem berühmt-berüchtigten Text, verfasst 1969, bestimmt der Kritische Theoretiker nicht nur jede explizit politische Literatur als ideologisch, sondern auch solche, die sich konventioneller Erzählweisen bedient. Wer in unvernünftigen Verhältnissen sinnstiftend erzähle, ringe damit eben diesen Verhältnissen dennoch Sinn ab und mache sich so mit ihnen gemein – im Falschen. Die vielschichtige Problematik von Adornos wirkmächtigem Diktum kann an dieser Stelle nicht entfaltet werden; relevant ist hier, was es gleichsam als Umkehrung enthält: Dass nämlich Literatur, die verständlich erzähle und eine politische Intention – auf welche Weise auch immer – explizit mache, weder künstlerisch noch gesellschaftsanalytisch ernstzunehmen sei.
Aber «Heldenfriedhof» – in den Worten Jan Süselbecks weniger ein Roman als ein «Steinbruch oder Fragment» – hat diese politische Agenda eventuell eben gar nicht. Vielleicht will das Buch nicht zum Verständnis des Nationalsozialismus für andere beitragen, sondern manifestiert Harlans persönliche Auseinandersetzung auch mit dem psychologisch sicher überwältigenden Aspekt der Täterschaft seines Vaters. Insofern erwüchse die Kryptik von Harlans Erzählweise aus der Haltung zu seiner eigenen Geschichte und fungierte vielleicht auch als Schutzschild. Die von Henke genannte Figur des «Erzählens als Bewältigungsstrategie» scheint insofern treffend. Aber ob die «Verweigerung der Erzählbarkeit als Erfassung von Täterschaft» gesehen werden kann, wie sie ebenfalls sagte, bleibt zweifelhaft. Denn die wirkliche Erfassung einer Sache verlangt wohl auch eine Dimension der verständlichen Vermittlung – und gerade die Frage, warum Männer (und Frauen) zu Tätern werden, kann eben durchaus verständlich gemacht werden. Es gibt «Täterliteratur», literarische und theoretische, die das tut – oder zumindest daran mitarbeitet und wohl auch die Verstehbarmachung zum bewussten Ziel hat; genannt seien hier etwa Klaus Theweleits «Männerphantasien» oder die Romane «Fliegeralarm» und «Heilig Blut» der kommunistischen Schriftstellerin Gisela Elsner.
Hier lässt sich die Frage aufwerfen: Warum ist es eigentlich naheliegender, das Unverstandene in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt das Verstandene, Erklärbare? Spielt eine Kapitulation vor dem Verständnis nicht faktisch der deutschen Vergangenheitsbewältigung in die Hände, die sich ebenfalls der Auseinandersetzung mit den wirklichen gesellschaftlichen und politischen Gründen für den Nationalsozialismus entzieht? Ein Beispiel für eine Leerstelle bei Harlan selbst ist der Aspekt der Männlichkeit. Setzt man sich nicht mit dem patriarchalen Aspekt der NS-Täterschaft auseinander, stehen die Chancen schlecht, das nationalsozialistische Herrschaftsprojekt und tatsächlich auch die Shoah zu verstehen – auch wenn diese Dimension bei weitem nicht ausreicht, um den Faschismus als soziopolitisches und eben auch ökonomisches Phänomen zu erfassen.
Keine Entlastungserzählung
Trotz dieser Einwände ist zu betonen: Dass sich Thomas Harlan überhaupt seit der frühen Nachkriegszeit explizit mit der Shoah und mit deutscher Täterschaft befasste, unterscheidet ihn von der großen Mehrheit der BRD-Autor*innen, auch der bis heute bekanntesten. Dies rückt ihn – ebenso wie sein dokumentarisches Vorgehen und seine kommunistische Haltung, über die allerdings auf der Tagung nichts Genaueres zu erfahren war – in die Nähe von Peter Weiss und Christian Geissler. Während Weiss in seiner Literatur allerdings nah am dokumentarischen Material bleibe, etwa in seinem Theaterstück «Die Ermittlung» (1961), manipuliert und fiktionalisiert Thomas Harlan in seinem filmischen und literarischen Werk sehr viel weitgehender. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist sein Film «Wundkanal», eine Mischung aus Dokumentarfilm und einer Art gescriptetem Reality-Format, in der Harlan den NS-Täter Alfred Filbert auf rücksichtslose Weise vorführt.
Der Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck zog in seinem Panel eine Parallele zwischen Thomas Harlan und dem österreichischen Autor Thomas Bernhard, spezifisch dessen Theaterstück «Heldenplatz» über Österreich als NS-Täterstaat. Die Kritik der nationalen Selbstinszenierung Österreichs als erstes Opfer Nazideutschlands war noch in den 80er Jahren skandalös; so durchgesetzt war der österreichische Opfermythos und so reaktionär die Politik. Das österreichische Parlament wählte 1986 den Nazi Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten. Aber zurück zum Thema: Wie Bernhard das «katholisch-nationalsozialistische» Österreich (so nannte er es gern) hasste, so strotzt laut Süselbeck Harlans «Heldenfriedhof» vor Deutschlandhass, ausgedrückt in langen «Täter-Listen, Nennungen von Politikern und direkten Beschimpfungen».
Politischen Bezug hatte auch die Tagung selbst, in ihrer historischen Dimension ebenso wie in Form einer Gegenwartskritik: Der zweite Workshoptag fiel auf den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Weit entfernt von einer Einstimmung in die Nationalerzählung bezogen Wilpert und Böckmann in der Einführungsveranstaltung hierzu kritisch Position: Die deutsche Erinnerung an die Shoah übergehe den Aspekt der Täterschaft und sei geprägt vom Wunsch nach Versöhnung mit den Opfernachfahr*innen. In diesem «opferidentifizierenden Gedenken» werde die Shoah zunehmend zur Chiffre für ein «allgemeines Böses». Dieser Sachverhalt findet sich in der Literatur wieder in einem Mangel an Werken über NS-Täterschaft, die keine Entlastungserzählungen sind. Als Paradebeispiel für eine solche Entlastungserzählung wurde im Laufe der Tagung immer wieder «Der Vorleser» von Bernhard Schlink genannt: Ein deutscher Bestseller aus dem Jahr 1995, der triviale Erzählstrategien anwendet, eine ehemalige KZ-Aufseherin als Identifikationsfigur zeichnet und Falschaussagen kolportiert – etwa den ebenso klassischen wie widerlegten Topos, die nicht-jüdische deutsche Protagonistin sei zur Arbeit im Konzentrationslager gezwungen worden.
Aktualität des Postnazismus
Eine zentrale These von Wilpert und Böckmann, dass die deutsche Gesellschaft nach wie vor eine postnazistische sei, mag sich an solchen Phänomenen orientieren. Gängiger ist der Begriff des Postnazismus allerdings für die alte Bundesrepublik mit ihren konkreten personellen Kontinuitäten, die ja eben auch politisches Betätigungsfeld Thomas Harlans und sein literarischer Rezeptionsraum war. Die weitgehende Straflosigkeit von NS-Personal in der alten BRD, namentlich etwa den ukrainischen «Trawniki», war einer der Bezugspunkte der Tagung. Wie immer bei linken Forderungen nach staatlichem Strafen ließe sich hier eine Grundsatzfrage aufwerfen: Ist das bürgerliche Recht überhaupt geeignet, um Gewalttaten wie die Shoah adäquat zu erfassen – geschweige denn, sie zukünftig zu verhindern?
Vielmehr tut sich fast ein Paradox auf, wenn man von ehemaligen NS-Richtern in bundesrepublikanischen Gerichten erwartet, dass sie andere Täter verurteilen. Auch das von CDU und SPD ausgerechnet 1968 verabschiedete Amnestiegesetz spricht Bände über die ausgebliebene «Entnazifizierung»: Wenn selbst die einst ihrerseits verfolgten Sozialdemokrat*innen die Täter davonkommen lassen, muss diese Art der Vergangenheitsbewältigung Staatsräson sein. Christoph Schneider sprach im letzten Panel über die Vereinnahmung des Gedenkens an Fritz Bauer durch das Bundesland Hessen und über die Shoah als «freigewordene moralische Ressource» in der Berliner Republik – eine Figur, die in ihrer Funktion der Rechtfertigung deutscher Kriegsführung durchaus Aktualität hat. Ob allerdings der Begriff des Postfaschismus ausreicht, um derartige Phänomene zu erklären, darüber könnte noch einmal diskutiert werden.
Das Werk von Thomas Harlan erscheint seit 2011 im Rowohlt-Verlag.
Das Literaturforum im Brecht-Haus
findet sich unter www.lfbrecht.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.