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Im Zwiegespräch mit der eigenen Geschichte

Die Theaterregisseurin Laura Linnenbaum über ihre Inszenierung von Annie Ernaux’ »Das Ereignis« am Berliner Ensemble

Drei Frauen im Kampf mit der Erinnerung: Probenfoto zu »Das Ereignis« am Berliner Ensemble
Drei Frauen im Kampf mit der Erinnerung: Probenfoto zu »Das Ereignis« am Berliner Ensemble

Laura Linnenbaum, Sie bringen am Wochenende am Berliner Ensemble eine Theaterbearbeitung von Annie Ernaux »Das Ereignis« zur Premiere, einer autobiografischen Erzählung über einen Schwangerschaftsabbruch im Frankreich der 60er Jahre. Die Autorin hat in einem Interview gesagt, Sie könne die Dringlichkeit, mit der sie das Buch vor Jahrzehnten geschrieben hat, reaktivieren. Welche Dringlichkeit spüren Sie bei dem Thema heute?

Interview

Laura Linnenbaum, geboren 1986, ist Theaterregisseurin. Sie studierte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main und arbeitete als Regieassistentin am Schauspiel Frankfurt. Seitdem entstanden Arbeiten unter anderem für das Berliner Ensemble, Staatsschauspiel Dresden, Staatsschauspiel Hannover und das Theater Bonn. Sie wurde zu den Hessischen Theatertagen sowie zu den Bayerischen Theatertagen eingeladen. 2016/17 war sie Künstlerische Leiterin des Festivals »Unentdeckte Nachbarn«, das in Chemnitz anlässlich des fünften Jahrestages der A﷬kung des sogenannten NSU stattfand.

Wir können derzeit überall spüren, dass das Thema nicht an Aktualität verloren hat. Etwa in den USA, wo man gerade die Gesetze wieder verschärft hat. Und auch in Deutschland wurde ja erst im letzten Jahr das Werbeverbot gekippt.

Ernaux versucht mit ihrer Prosa schreibend Erinnerungen herzustellen und ihre eigene Geschichte zu rekonstruieren. Ist das, in dieser sehr undramatischen Anlage, überhaupt für die Bühne geeignet?

In einem Interview hat Annie Ernaux gesagt: »Ich ist ein Ort.« Es ist für das Theater sehr reizvoll, dass sie sich als Autorin immer selbst in ihr Schreiben reinnimmt. Sie ist ja eine sehr politische Schriftstellerin, die ihre eigene Biografie nutzt, um universelle Geschichten zu erzählen. Das war für uns der Anknüpfungspunkt, und darum haben wir uns auch entschieden, das Stück mit drei Frauen zu besetzen, den Text nicht zum Monolog, sondern ihn als Zwiegespräch zu machen.

Wie kann man sich diese Aufteilung auf drei Schauspielerinnen vorstellen?

Im Text schreibt Ernaux eindrucksvoll, Tausende Frauen seien diese eine Treppe hinaufgestiegen, um ihre Körper einer Frau anzuvertrauen. Wir wollten das Ganze dann nicht als Einzelfall darstellen. Die Figuren spiegeln auch die Auseinandersetzung einer älteren Frau mit den eigenen Notizen als junge Frau. Hinzu kommt dieselbe Person als ein schreibendes Ich, die mit mehr Abstand die eigene Geschichte reflektiert. Darin ist dann auch Raum für die Widersprüche in der Erinnerung.

Ernaux hat festgehalten, ihr Schreiben sei sehr distanziert, »ich möchte kein Mitleid erregen, bloß nicht, ich möchte festhalten«. Wie entgeht man bei einer Adaption für das Theater der Gefahr, gefühlig zu werden, nur auf Affekte zu setzen?

Indem man auf die Sprache vertraut. Also versucht, sowohl den analytisch nüchternen Gestus, den Annie Ernaux selbst im Umgang mit ihrer eigenen Geschichte hat, auf die Bühne zu transportieren als auch den Humor, der darin steckt. Der Text entfaltet quasi im Verlauf eine eigene Tiefe und Poesie, die sehr emotional werden kann. Das versuchen wir einzufangen.

Während die Protagonistin in »Das Ereignis« auf das Einsetzen ihrer Periode wartet, sieht sie das erste Mal ein zeitgenössisches Theaterstück: »Geschlossene Gesellschaft«. »Die Hölle, das sind die anderen«, heißt es in Jean-Paul Sartres Drama. Bei Ernaux könnte es heißen: »Die Hölle, das sind die Verhältnisse.«

Ja, aber die Verhältnisse zeigt sie immer auch im Spiegel der anderen Figuren. In der genauen Beschreibung ihrer Umgebung ruft die Autorin ihre eigenen Erinnerungen wach. Die Figuren stehen stellvertretend für die Verhältnisse, in denen sie agieren; sie sind wie ein Schilderwald. Die Geschichte selbst ist ja schnell erzählt: Frau, schwanger, illegale Abtreibung. Es geht aber darum, in welchem Kontext das passiert und welche Haltung man dazu einnimmt.

Lässt sich denn das Frankreich des Jahres 1963 einfach so im Theater erzählen?

Man kann natürlich nicht die Zeit einfach ins Heute übersetzen. Aber entscheidend ist doch, dass eine ungewollte Schwangerschaft auch heute noch Konsequenzen hat. Wir erzählen mit drei Frauenkörpern auf der Bühne von einem Urproblem, das es schon immer in patriarchalen Gesellschaften gegeben hat.

Schüchtert es Sie als Theatermacherin auch ein, eine Schriftstellerin wie Ernaux, die ja gerade erst mit dem Nobelpreis geehrt wurde, auf die Bühne zu bringen?

Es ist zunächst sehr beeindruckend, wie verdichtet sie schreibt. Und ich möchte als Künstlerin mit meiner Arbeit auf keinen Fall betulich werden bei einer Autorin, die so welthaltig ihre eigenen Erfahrungen und eine so tiefgründige Gesellschaftsanalyse in ihre Werke einschreibt.

In ihrer Rede zur Verleihung des Nobelpreises hat Ernaux davon gesprochen, mit ihrem Schreiben »die Ihrigen« – Angehörige ihrer Klasse, ihres Geschlechts – rächen zu wollen. Rache – ist das auch ein Antrieb für Ihre Arbeit?

Nein, Rache ist nicht unser Motor. Wenn man sich den Text von Ernaux vor Augen führt, wird aber deutlich, dass unter der Nüchternheit der Beschreibung eine Verletzung liegt. Klasse und Geschlecht sind die zentralen Themen. Indem Ernaux eine persönliche Geschichte von Ohnmacht innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht als Befindlichkeit und aus der Opferperspektive erzählt, sondern als klare Analyse, wird ihr Schreiben zu Selbstermächtigung und zu einem Akt der Souveränität.

Premiere: 18.2.
Weitere Vorstellungen: 19., 28.2. und 1.3.
www.berliner-ensemble.de

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