- Berlin
- Fachkräftemangel Kitas
Erst systemrelevant, dann ausgebrannt
Überlastete Kita-Beschäftigte geben dem Senat das nicht umsetzbare Bildungsprogramm zurück
In leuchtenden Warnwesten stehen etwa 20 Beschäftigte mit Schildern und einem Transparent vor dem Roten Rathaus. »Bildung statt Burnout« steht auf drei Schildern, »Kitas vor dem Kollaps« auf dem großen Transparent. Die Demonstrierenden arbeiten in den Kita-Eigenbetrieben des Landes Berlin und wurden durch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zur Aktion aufgerufen. Denn in den Einrichtungen für die Kleinsten brennt es schon lange und immer weiter – es gibt nicht genügend pädagogische Fachkräfte, um die Bildung und Betreuung der Kinder fachgerecht zu gewährleisten. Deswegen geben die Erzieher*innen symbolisch die Druckexemplare des fast 200 Seiten umfassenden Berliner Bildungsprogramms für Kitas und Kindertagespflege den anwesenden Landespolitiker*innen zurück, mit der Ankündigung, sie wieder abzuholen, sobald die Rahmenbedingungen für seine Umsetzung geschaffen sind.
»Ich überreiche Ihnen das Bildungsprogramm, weil gute Arbeit in den Kitas aktuell nicht möglich ist«, sagt Martina Breitmann, Leiterin der Kita Schwalbennest, welche zum Eigenbetrieb Berlin Nordost gehört. Viele Kolleg*innen aus unterschiedlichen Einrichtungen tun es ihr gleich. Die landeseigenen Kita-Betriebe umfassen laut Eigenangaben 282 Einrichtungen und betreuen und bilden 35 000 Kinder auf Grundlage des Bildungsprogramms. Die Beschäftigten vor dem Roten Rathaus erklären den Politiker*innen, dass sie die im Programm vorgesehene Arbeit nicht leisten können. Beispielsweise könnten sie aufgrund des Personalmangels weder geplante naturwissenschaftliche Projekte noch Verkehrsübungen angemessen umsetzen.
»Wir schaffen es gerade so, unserer Aufsichtspflicht nachzukommen«, sagt Anne Lembcke, Erzieherin bei den Kindergärten Nordost während der Kundgebung. Die Bezahlung für Erzieher*innen reiche nicht aus, um den Beruf attraktiv für junge Leute zu machen, und aufgrund der miserablen Arbeitsbedingungen hörten viele Einsteiger*innen schnell wieder auf. »In unserem Beruf haben wir die höchsten Burnout-Zahlen von allen«, so Lembcke.
Gerade in den letzten zwei Jahren seien die Anforderungen an den Job durch die Pandemie noch gewachsen. Kitas blieben auch bei sehr hohen Infektionszahlen geöffnet, um die Kinderbetreuung zu gewährleisten. Gleichzeitig sei das ohnehin schon überlastete Personal für die Durchführung von Tests und die Umsetzung vieler Maßnahmen verantwortlich gewesen, so Lembcke. Die Anerkennung für diese Leistung habe sich auf warme Worte beschränkt. »Wir haben weder mehr Gehalt bekommen noch haben sich die Arbeitsbedingungen verbessert. Erst systemrelevant und dann ausgebrannt«, so die Erzieherin.
Nun sei es an der Zeit, dass sich die Berliner Politik zügig um eine Lösung des Problems kümmere. Lembcke erzählt, den stetig wachsenden Anforderungen an die Arbeit in der Kita könnten die Fachkräfte bei aktueller Besetzung nicht nachkommen. »Das macht uns wütend, denn wir sehen die Bedürfnisse der Kinder und wollen uns so um sie kümmern, wie sie es brauchen«, sagt sie. Stattdessen könnten die Kinder im Ist-Zustand nur »verwaltet« werden, für alles Weitere seien keine Kapazitäten da. Von den Politiker*innen fordert die Erzieherin, die Arbeitsbedingungen zu schaffen, die den Beruf attraktiv für junge Menschen und sicher für alle machen. »Machen Sie Ihre Arbeit, damit wir unsere machen können«, so Lembcke.
Bildungsstaatssekretär Aziz Bozkurt (SPD) versucht, die Erzieher*innen zu beschwichtigen. »Wir haben viel gemacht in den letzten sechs Jahren, wir haben die Ausbildungskapazitäten erhöht und wir haben das Personal um 25 Prozent gesteigert«, sagt er zu den Demonstrierenden vor dem Roten Rathaus. Das zeige, dass der politische Wille und die Wahrnehmung der prekären Situation in den Kitas durchaus vorhanden sei im Senat. Er wisse, dass die Anstrengungen bisher nicht ausreichten, dass die Anforderungen steigen und dass frühkindliche Bildung wichtig sei, auch um einen sozialen Ausgleich im Sinne der Armutsbekämpfung zu erreichen. »Das Bildungsprogramm gilt weiterhin in den Einrichtungen. Ich wünsche mir, dass wir miteinander in den Dialog gehen, um weitere Fortschritte zu erzielen«, so Bozkurt zum Kita-Personal.
In ähnlichem Ton äußern sich die bildungspolitischen Sprecherinnen der SPD-, Grüne-, und Linke-Fraktionen im Abgeordnetenhaus. Sie wüssten, wie prekär die Lage ist, sie arbeiteten hart an Lösungen und sie hätten ja auch schon einiges erreicht in den vergangenen Jahren. »Da platzt mir der Kragen, wenn ich so was höre«, sagt Sabine Krohm nach der Kundgebung zu »nd«. Sie ist Facherzieherin für Integration bei den landeseigenen Kindertagesstätten Nordwest und arbeitet seit 1986 in dem Beruf. Krohm verweist darauf, dass die 25 Prozent mehr Personal auch die Kolleg*innen in der berufsbegleitenden Ausbildung umfasse und sich dementsprechend die Entlastung des Personals in Grenzen hielte.
»Ich habe eigentlich vier Stunden pro Woche für Arbeit, die nicht direkt am Kind stattfindet, also zum Beispiel Lerntagebücher bearbeiten oder Vor- und Nachbereitung«, so Krohm. Doch selbst das sei unter den aktuellen Umständen nicht möglich, weil alle Fachkräfte zur Kinderbetreuung gebraucht würden. »Alle schreien nach mehr Kita-Plätzen, auch unser Betrieb baut neue Kitas. Aber das können wir uns sparen, wenn kein Personal da ist«, sagt die Erzieherin. Ihr Arbeitgeber würde derweil alles dafür tun, um die Situation zu verbessern, auch investieren. »Aber das hilft alles nichts, wenn sich der Senat nichts einfallen lässt«, so Krohm.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.