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Spiel mit dem Feuer

Was steckt hinter dem neuen westlichen Anspruch einer »regelbasierten internationalen Ordnung«?

  • Arne Seifert
  • Lesedauer: 8 Min.

»Wir stehen als Europäerinnen und Europäer für eine regelbasierte internationale Ordnung«, so die Außenministerin Annalena Baerbock im Deutschen Bundestag am 12. Januar 2022. »Die regelbasierte internationale Ordnung ist – wie für die USA – auch Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik«, antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke.

Dokumente des US-Kongresses von 2021/22 verdeutlichen, dass die Formel »regelbasierte internationale Ordnung« auf »Erhalten der globalen Führungsrolle der USA in der Welt« hinausläuft. So charakterisierte der Kongress diese Ordnung als eine »um die USA zentrierte Welt, deren Alliierte sowie Partner, um deren gemeinsame Werte und Interessen durchzusetzen, freie, offene, demokratische, inklusive, regelbasierte, stabile sowie vielfältige Regionen zu erhalten und zu fördern.« Was Washington jedoch nicht verhehlt »Der größte Teil der Menschen, Ressourcen und wirtschaftlichen Aktivitäten der Welt befindet sich nicht in der westlichen Hemisphäre, sondern in der anderen Hemisphäre, insbesondere in Eurasien« – so veröffentlicht und aktualisiert vom US-Congress Research Service (Wissenschaftlicher Dienst) am 19. April 2022.

Weiter heißt es dort: »Als Reaktion auf dieses grundlegende Merkmal der Weltgeografie haben sich die politischen Entscheidungsträger der USA in den letzten Jahrzehnten dafür entschieden, als Schlüsselelement der nationalen Strategie der USA das Ziel zu verfolgen, das Entstehen regionaler Hegemonen in Eurasien zu verhindern.« Und ein Strategiepapier des US-Kongresses unter dem Titel »The United States global leadership rolle« stellt unverblümt fest, dass zu den »Basen großräumiger, langfristiger US-Militäroperationen gegen China und Russland« US-Allianzen und -Partnerschaften, einbegriffen die Nato gehören. Den Beginn dieser neuen Ära regelbasierte internationale Ordnung verortet die USA bei der »Einnahme und Annexion der Krim durch Russland im März 2014«, dessen »Handlungen in der Ost-Ukraine« sowie »Chinas Vorgehen im Ost- und Süd-Chinesischen Meer.

«Regelbasierte internationale Ordnung» – was soll das sein? Worauf zielt sie? Stärkt sie völkerrechtliche Stabilität oder bewirkt sie Instabilität? Qui bono? Die Erklärung der Außenministerinnen und Außenminister der G7 vom 7. November 2022 formulierte unmissverständlich Ziel sowie Inhalt der «regelbasierten internationalen Ordnung». Kurzgefasst und im Klartext: Der Westen kreiert seine weltpolitische Doktrin, um ein auf die USA und ihre engsten Verbündeten beschränktes System internationaler Normen und Institutionen auch unter multipolaren Bedingungen durchzusetzen und international auszuweiten. Dem dienen Systeme internationaler Indoktrination westlicher Demokratie, Regime Change eingeschlossen sowie ein Weltwirtschaftssystem mit einem weltwirtschaftlichen Regulierungsmonopol.

Jener Anspruch erweist sich in der internationalen Realität für den Westen jedoch als ein überaus risikoreiches Unterfangen, ungewohnt und unübersichtlich. Vor allem die rasanten Veränderungen sind es, welche nach 1990 die Dynamik der «beiden Kernprozesse – Zusammenbruch des Sozialismus und Aufstieg des Südens» spannungsgeladener verlaufen ließen, als vom Westen für möglich gehalten. Insbesondere beim Aufstieg des Südens handelt es sich um qualitative sowie quantitative Veränderungen objektiver Natur. Sie zu kontrollieren, beherrschen oder gar zu stoppen wird der Westen nicht mehr vermögen.

Der Geschichtsprofessor Gregor Schöllgen und Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder sind überzeugt: «Während die überlebenden Architekten der alten Weltordnung, namentlich Nordamerikaner und Westeuropäer, seit 30 Jahren in deren Strukturen festsitzen, haben andere, allen voran die Chinesen, das Heft des Handelns in die Hand genommen und Fakten geschaffen. Diese Fakten mögen uns nicht gefallen, aber wir haben keine Wahl. Wir müssen sie als Elemente einer bislang ohne unser Zutun aufgebauten Ordnung akzeptieren. Tun wir das nicht, werden wir scheitern.» (Schöller/Schröder, «Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen», DVA, 2021)

Dass «wir» das Gegenteil tun, verdeutlichen offizielle Dokumente von Nato, EU, Parlamenten, Regierungen etc. Transatlantische Allianz, Nato und EU haben den Anspruch auf eine «regelbasierte internationale Ordnung in ihre Programmatik sowie Aktionsorientierungen integriert. Parallel zu ihrer in erster Linie gegen Russland und China gerichteten eurasischen Stoßrichtung, meint der von Nato und EU proklamierte »regelbasierte« internationale Ordnungsanspruch Engagement mit wichtigen globalen Akteuren in Afrika, Asien und Lateinamerika. Diese Operationsräume betreffen zielgenau jene Regionen, aus denen neue Staatenverbünde wie »BRICS« und die »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« ihr alternatives, antihegemoniales Staaten- und Kräftepotenzial schöpfen, welches sich des Westens »regelbasierter internationalen Ordnung« entgegen stellt.

Dass neue Räume wirtschaftlicher und politischer Weltgeltung heranwuchsen, kann nicht überraschen. Sie sind Produkte längerer Evolutions-, Akkumulations- und politischer Erfahrungsprozesse. Bei Letzteren dürfte nicht zuletzt emanzipatorisches Begehren seine Rolle spielen. Emanzipatorisch im Sinne eines »Abnabelns« von den Fesseln jahrhundertealter Hegemonie durch die nordatlantische Welt sowie deren kolonialer und neokolonialer Vorherrschaft.

Des »weißen Mannes« geostrategisches Selbstverständnis war stets ein »erstklassiges«. Ein mehr oder weniger gering gehaltenes »drittklassiges« hatte für ihn jene Ursprungswelt der heutigen neuen Mächte – ein unverzichtbarer Rohstoffquell und Absatzmarkt. Zwischen dieser dritten Welt lag bis 1990 eine zweite, die sich als sozialistisches Weltsystem, antiimperialistisch und Verbündeter antikolonialer nationaler Befreiungsbewegungen verstand. Sie zermalmte der Ost-West-Antagonismus zweier sich gegenseitig bekämpfender Gesellschaftsordnungen in der Periode des Kalten Kriegs.

Dass die vormals »Erste Welt« nunmehr den Brecher ihrer jahrhundertelangen globalen Hegemonie ausgerechnet in der einstmals »Dritten Welt« findet, ist ein beachtenswerter Vorgang: Diese ist heute in den konfliktreichen internationalen Prozessen zur »zweiten Welt« avanciert. Sie hat ihre vielfältigen Potenziale mit 4,5 Milliarden Menschen allein in Asien bei Weitem nicht ausgeschöpft. Was sich ändert, sobald sie ihre Ressourcen eigener Regie unterwirft. Jene »Zweite Welt« hat sich ihrer fremdbestimmten sekundären Qualifizierung entledigt. Sie erkennt des Westens Selbstplatzierung als »Eins« nicht an. Darin besteht die neue Qualität, welche die internationale Dynamik der Multipolarität antreibt.

An der Spitze jener neuen internationalen Kraft steht die Großmacht China mit einer Kommunistischen Partei als ordnungspolitischer Autorität. Deren rasante ökonomische Innovations- und Leistungsfähigkeit stellt zurzeit westliche in den Schatten. Russland ist, trotz wirtschaftlichen Schwächelns, ein Sechstel der Erde und militärisch nukleare Großmacht. Mit seinen 110 Millionen westlich des Urals lebenden Einwohnern ist es Europas bevölkerungsreichster Staat. Russlands Rohstoffreserven sind mit etwa 20 bis 30 Prozent die wahrscheinlich größten der Welt. Mit BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) entstanden einflussreiche regionale Zusammenschlüsse und euroasiatische Gravitationszentren. Die Mitgliedsstaaten der SOZ vertreten circa 40 Prozent der Weltbevölkerung, womit sie weltweit größte Regionalorganisation ist. Im Westen noch immer gering geschätzt, sind diese und andere regionale Zusammenschlüsse ernst zu nehmen.

Die Art und Weise sowie die politischen Intentionen, mit denen herrschafts-, kulturelle- und sozio- strukturelle Unterschiedlichkeit wahrgenommen wird, entscheiden ganz wesentlich darüber, welchen internationalen Steuerungsinstrumenten sich die Staaten zuwenden – entweder hegemonial und konfrontativ oder koexistenziell, konfliktpräventiv und friedensorientiert? Erfahrung besteht bereits: Unmittelbar nach dem Systemkollaps des sozialistischen Lagers entwickelten Politiker und Akademiker des Westens eine komplexe Strategie externer Intervention und Überwachung in und von nahezu sämtlichen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Sphären jener vormals nichtkapitalistischen Staatengruppe. Die Absicht bestand darin, des Westens wirtschaftliches, politisch normatives und institutionelles Weltbild osteuropäischen und »postsowjetischen« Staaten zu transplantieren, um das eigene zum dominierenden auszuweiten. Dabei erwies sich der Umgang mit der vorgefundenen Vielfalt autochthoner gesellschafts-, kultureller- und wertemäßiger Systeme als außerordentlich kompliziertestes Konfliktfeld, welches im zentralasiatischen Umfeld in einen Bürgerkrieg glücklicherweise nur in Tadschikistan entartete.

Die Doktrin der »regelbasierten internationalen Ordnung« ignoriert nicht nur diese alarmierenden Erfahrungen, sondern internationalisiert jenes Konfliktfeld des »Kampfes der Kulturen« (Samuel P. Huntington). Sie verwickelt Europa direkt in den sensiblen, hochideologisierten Komplex von Ideen, Normen und Werten »nicht-europäischer« Völker und Gesellschaften. Das konkret Offensive jener Doktrin steckt in der Selbstermächtigung zu »regime change« und Installation »Bündnis gerechter« Regime.

Die Doktrin der »regelbasierten internationalen Ordnung« globalisiert das unverminderte Festhalten des Westens am Trachten, seinen »Wertekanon« weltweit zu verankern und dafür internationale Rahmenbedingungen zu schaffen. Dabei verschließt er seine Augen davor, dass realiter trotz Globalisierung und neoliberaler Steuerung keine allgemeine Angleichung der Systeme, Kulturen, Werte und Strukturen stattfand. Im Gegenteil: Die Skepsis gegenüber westlichen (fremden) Wertvorstellungen und Verhaltensweisen lässt weltweit nicht nach.

Der Westen wird mit seinem Wertemissionarismus sich die Zähne an den autochthonen Struktur- und Wertegefügen anderer Gesellschaften ausbeißen. An deren sozialstrukturell und geopolitisch stabilen, extern so gut wie nicht ausmerzbaren Barrieren. Das gilt umso mehr, je weiter er nach Osten und Süden vorzudrängen trachtet. Merkwürdigerweise kommt ihm bei seinem universalen Anspruch auf ordnungspolitische Hegemonie die Makrostruktur der real existierenden Welt wenig oder gar nicht in den Blick. In dieser ist nämlich »das Modell des leistungsfähigen, marktwirtschaftlich orientierten und demokratischen Rechtsstaates noch längst nicht zum globalen Standard geworden«.

Die Bilanz des Werteexports ist für den Westen selbst im eigenen eurasischen Raum der OSZE nicht ermutigend, wie die Beispiele osteuropäischer EU- und Nato-Mitglieder sowie der zentralasiatischen Staaten verdeutlichen. Der Gruppe osteuropäischer EU- und Nato-Mitglieder war es nach 1990 nicht schwer gefallen, sich von russisch/sowjetischer ordnungspolitischer Orientierung zu lösen. Von ihr häuteten sie sich relativ zügig, um sich für die systemischen Regeln und Vorschriften der EU fit zu machen. Sie brauchten rund zwanzig Jahre, um zu realisieren, dass sie eine neue (EU-)Überfremdungsordnung national fesselt.

Zu den jungen souveränen zentralasiatischen Staaten: Obgleich sie als Schwerpunkt der »Human Dimension«-Offensive galten, folgten deren Führungen eigenen traditionellen Strukturen, Regeln und islamischer Religion. Nach siebzig Jahren systemischer Überfremdung durch ein für sie »fremdes« europäisches, sowjetisches Regime versagten sie sich westlichen europäischen, erneut nicht autochthonen Experimenten. Für sie waren auch in sowjetischen Zeiten Moskau und Kreml »Westen«, weshalb sie ihren nationalen Weg bevorzugten. Er erweist sich als sultanische Obrigkeitsvariante. Heute ist Zentralasien erneut muslimisch mit brüchigem Säkularismus. Ein diese Staaten zwar rhetorisch kritisierender Westen sah in jener Gegensätzlichkeit von Werteorientierungen und politischen Wunschsystemen schlussendlich keine Barriere, die Region als logistisches Hinterland für die Nato-Operationen in Afghanistan zu gewinnen und zu nutzen.

Im August 2022 schrieb Professor John J. Mearsheimer, Politikwissenschaftler an der Universität Chicago, in einem Artikel unter der Überschrift »Playing With Fire in Ukraine« (Mit dem Feuer spielen in der Ukraine) für eine außenpolitische Fachzeitschrift: »The United States announced its intention to knock Russia out of the ranks of great powers.« – Die US-Administration mag die Absicht haben, Russland als Großmacht zu eliminieren. Ob sie sich dabei allerdings nicht verrechnet beziehungsweise überhebt, wie beispielsweise selbst bei der letztlich erfolglosen Intervention in einem wesentlich schwacheren, ärmeren, unterentwickelten Land wie jenes am Hindukusch, wird man sehen.

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