Ein beinahe unbekannter Soldat

Vor 79 Jahren wurde der Wehrmachtsdeserteur und Partisan Fritz Schmenkel hingerichtet. Obwohl es eine Fülle von Erinnerungsliteratur gibt, ranken sich um seine Biografie bis heute viele Fragen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 10 Min.
Gedenktafel für Fritz Schmenkel am Ort seiner Hinrichtung im belorussischen Minsk
Gedenktafel für Fritz Schmenkel am Ort seiner Hinrichtung im belorussischen Minsk

Die Büste liegt in einer Kammer im Torgauer Schloss: ein wuchtiger Kopf von anderthalb Meter Höhe, gegossen aus Bronze, die aber stumpf und grau wirkt. »Es hat vier Männer gebraucht, um sie durch das Treppenhaus hier hochzubringen«, sagt Elisabeth Kohlhaas. Die Historikerin leitet den »Erinnerungsort Torgau«, der im Residenzschloss über der Elbe mit einer Ausstellung an Opfer der NS-Militärjustiz erinnert: Menschen, die sich dem Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten verweigerten, dafür vor eines der Militärgerichte gestellt wurden, deren höchstes ab 1943 in Torgau ansässig war, und ins Gefängnis kamen oder hingerichtet wurden. Die Büste stellt einen von ihnen dar. Fritz Schmenkel wurde am 15. Februar 1944 von einem Kriegsgericht in Minsk zum Tode verurteilt und am 22. Februar im Hof des Gerichtsgefängnisses erhängt. So viel immerhin ist sicher. Ansonsten, sagt Kohlhaas, »wissen wir über die Person fast nichts«.

Einspruch, sagt Peter Blechschmidt. Er ist der Mann, der die vom Bildhauer Claus Lutz Gaedicke für einen Schulhof im früheren Karl-Marx-Stadt geschaffene und 1989 demontierte Büste nach Jahren in einem Depot des Chemnitzer Kulturamtes entdeckte, dann dazu beitrug, dass sie nach Torgau kam, und das heute zu bereuen scheint. Er hatte gehofft, dass Schmenkel in der Gedenkstätte und deren im Herbst zu eröffnender neuer Dauerausstellung die Würdigung erfährt, die ihm seiner Meinung nach zusteht. Stattdessen hat er unfreiwillig eine Debatte darüber losgetreten, wie viel die Verehrung Schmenkels in der DDR eigentlich mit dessen Person zu tun hatte. Wenig, sagen Torgauer Wissenschaftler und sprechen von einem »Mythos«. Blechschmidt wiederum ärgert sich über »Diffamierung und Diskreditierung« eines Helden seiner Vergangenheit: »Ich war blauäugig.«

Blechschmidt ist, wie er sagt, ein »Schmenkel-Soldat«. Er diente ab 1972 in einer Wacheinheit des Ministeriums für Staatssicherheit im damaligen Karl-Marx-Stadt, die im Jahr zuvor nach Schmenkel benannt worden war. In jener Zeit erhielten auch Schulen, Straßen und Arbeitskollektive seinen Namen; sogar ein Gedenklauf wurde Schmenkel gewidmet: einem 1916 geborenen jungen Mann, der, auch so viel ist sicher, nach dem Überfall auf die Sowjetunion als Soldat einer Flak-Artillerie-Abteilung an der Ostfront eingesetzt war, aber Hitlers Armee den Rücken kehrte. Am 13. Januar 1942 wurde er laut einer Karteikarte der »Wehrmachtsauskunftsstelle«, die heute im Bundesarchiv liegt, von seiner Einheit als vermisst gemeldet. Schmenkel war übergelaufen und schloss sich im Raum Smolensk einer Partisaneneinheit an.

Dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg die Seite wechselten und in einer Armee der Alliierten kämpften, fand lange Zeit wenig Beachtung. In einer Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die 2005 zum 60. Jahrestag der Befreiung erschien, schrieb der Historiker Stefan Doernberg von einer »unterbelichteten Front des antifaschistischen Widerstandes«. In der Bundesrepublik wurden Überläufer noch Jahrzehnte nach Ende des Krieges ohnehin als »Vaterlandsverräter« und »Feiglinge« diffamiert, sagt Kohlhaas; eine Rehabilitierung dieser Opfergruppe und die Aufhebung der NS-Urteile beschloss der Bundestag erst 2002. In der DDR rückte das Thema deutlich eher ins Blickfeld, und zwar, als Schmenkel 1964 in der UdSSR mit dem Titel »Held der Sowjetunion« ausgezeichnet wurde. Damals »hörte die Öffentlichkeit den Namen zum ersten Mal«, schrieb der DDR-Autor Wolfgang Neuhaus in seinem 1968 erschienenen und Schmenkels Biografie gewidmetem Buch »Kampf gegen Sternlauf«.

Die Frage, warum Schmenkel 20 Jahre nach seinem Tod diese hohe Ehrung zuteilwurde, ist nicht leicht zu beantworten. Auf ihn aufmerksam geworden war man in der UdSSR bei Ermittlungen gegen einen Kollaborateur, dem 1960 der Prozess gemacht wurde. Die nachfolgende Auszeichnung des deutschen Partisanen sieht der Historiker Robert Parzer, der 2021 in Torgau zu dessen Biografie forschte, im Zusammenhang mit einer erinnerungspolitischen Wende in der Sowjetunion kurz vor dem Machtantritt von Leonid Breschnew. Spekulieren ließe sich, dass womöglich der Blick darauf gelenkt werden sollte, dass es schon während des Krieges auch »gute Deutsche« gab. In einem Text über Schmenkel lässt der sowjetische Publizist Boris Polewoi dessen Vorgesetzten in der Partisaneneinheit sagen: »In der Hitze des Gefechts vergessen wir manchmal, dass seinerzeit fünf Millionen Deutsche für Thälmann gestimmt haben«, also für die KPD und nicht Hitlers NSDAP. Diese fünf Millionen »gibt es noch«, lässt Polewoi den Partisanenführer im Kriegsjahr 1943 erklären: Ihr Mitkämpfer Schmenkel sei »der Beweis dafür«.

Das Buch von Polewoi ist Teil einer umfangreichen Erinnerungsliteratur über Schmenkel, die nach dessen postumer Auszeichnung entstand. Nach einigen Zeitungsartikeln erschien in der DDR zunächst 1967 das Buch »Das erste Gefecht« von Wolfgang Neuhaus in einer »Tatsachenreihe« im Militärverlag. 1968 folgte der Band »Kampf gegen Sternlauf«, laut Klappentext ebenfalls ein »spannender Tatsachenbericht«. Ebenfalls verbreitet war Theodor Gladkows Buch »In den Wäldern von Smolensk« von 1983. Polewois Erinnerungsband mit einem Stück über »den Partisanengenossen S.« wurde in der DDR 1982 aufgelegt. Zudem gab es ein Kinderbuch, ein Jugendhörspiel, eine Fernsehdokumentation und schließlich den Defa-Spielfilm »Ich will euch sehen«.

Die schiere Anzahl an Publikationen erweckt den Eindruck, als sei kein Detail der Biografie Schmenkels und von dessen Motiven unbekannt. In der Summe entsteht das Bild eines jungen Mannes, der in einem schlesischen Dorf als Sohn eines Ziegeleiarbeiters aufwuchs. Den Vater bezeichnen manche Autoren als »Thälmannkommunisten«; er sei 1932 von der SA ermordet worden. Die Rede ist davon, dass dessen Arbeitskollegen quasi eine politische Patenschaft über den jungen Schmenkel übernommen hätten. Als dieser nach Ausbruch des Krieges in die Wehrmacht einberufen wurde, versuchte er, sich dem Kriegsdienst offenbar durch Vortäuschen einer Krankheit zu entziehen, und wurde dafür verurteilt. Berichtet wird von einer Inhaftierung im Wehrmachtsgefängnis Torgau, wo er seine Initialen FS in die Zellenwand geritzt habe. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion habe er sich dann freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet -– »in der Absicht, bei der erstbesten Gelegenheit zu den sowjetischen Truppen überzulaufen«, schreibt Polewoi. Er schildert auch viele abenteuerliche Episoden aus dem Partisanenleben, darunter Inkognito-Einsätze unter deutschen Truppen. Schließlich sei er in Minsk von einem Verräter denunziert, verhaftet, verurteilt und hingerichtet worden.

Die Biografie war vielen Menschen in der DDR vertraut und verfehlte ihre Vorbildwirkung nicht. Peter Blechschmidt etwa sagt: »Ich spreche sehr auf Personen an.« Für den jungen Mann, der einer antifaschistischen Familie entstammt und jüdische Vorfahren hat, gaben die Widerstandsbiografien von Fritz Schmenkel und Richard Sorge den Ausschlag, nicht wie zunächst geplant Lehrer für Deutsch und Musik zu werden, sondern bei den »bewaffneten Organen« zu dienen und später Offizier zu werden.

Die spannende Frage ist allerdings: Wer war Fritz Schmenkel wirklich, und welche der Details, die in der Erinnerungsliteratur der DDR berichtet werden, stimmen überhaupt? Zwar wurde über den Soldaten, Überläufer und Partisanen viel geschrieben. Von ihm selbst aber sind keinerlei Zeugnisse überliefert: kein Tagebuch, kein Brief, nicht die kleinste Notiz. Akten aus den vermutlich zwei Verfahren vor Militärgerichten sind nicht erhalten, ebenso wenig ein Urteil, sagt Elisabeth Kohlhaas. Belegen lässt sich eine Haftzeit in einem Militärgefängnis im heutigen Polen. Dass Schmenkel jemals in Torgau einsaß, »dafür haben wir keine Belege gefunden«, sagt Kohlhaas. Die Karteikarte im Bundesarchiv vermerkt einen Lazarettaufenthalt in Berlin im Jahr 1939 wegen »Bettnässens«, womit sich Schmenkel womöglich dem Militärdienst entziehen wollte. Darüber hinaus wird nur seine Hinrichtung am 22. Februar 1944 um 8:10 Uhr vermerkt. Selbst bei dem einzigen Bild Schmenkels, das als Vorlage wohl auch für die von Gaedicke geschaffene Büste diente, handelt es sich vermutlich um eine für einen Zeitungsartikel erstellte Zeichnung oder ein überzeichnetes Foto.

Alles, was es gibt, sind indirekte Überlieferungen, darunter Aussagen ehemaliger Kampfgefährten, die wohl nach dem Prozess von 1960 befragt wurden. Ob es dazu noch Protokolle gibt und wo sie liegen, ist unklar. Gleiches gilt für ein Tagebuch der Partisanenbrigade und weitere Materialien, die dem DDR-Autor Wolfgang Neuhaus vorgelegen haben sollen, als er 1963 zu Recherchen in die Sowjetunion reiste. Damals »waren die wesentlichsten Quellen zusammengetragen«, heißt es im Vorwort. Welche das genau waren und wo sie heute liegen, ist unbekannt. Das Ministerium für Staatssicherheit wiederum erhielt 1975, zehn Jahre nach Beginn der Verehrung Schmenkels, von sowjetischer Seite ein Konvolut an Akten. Dabei handelt es sich nach Angaben Robert Parzers um Protokolle von Verhören, die SS-Offiziere mit gefangenen Partisanen durchführten. Darin wird der deutsche Überläufer erwähnt. Sie zeichnen »ein wenig rosiges Bild des Partisanenlebens«. Kohlhaas merkt an, in allen Fällen handle es sich um mündliche Überlieferungen aus zweiter Hand, die teils mit gehörigem zeitlichem Abstand entstanden. Wie die jeweilige Situation die Darstellung beeinflusste, ist offen.

Selbst die vermeintlich authentischste Quelle erweist sich bei näherer Betrachtung als nur bedingt belastbar. Boris Polewoi gibt an, Schmenkel 1943 persönlich getroffen und befragt zu haben. Er war damals für die Parteizeitung »Prawda« tätig und wollte mit dem Bericht über die Partisanen einen »weißen Fleck in meiner Korrespondententätigkeit« schließen. In diesem finden sich sehr viele biografische Details zu Schmenkel. Bei genauer Lektüre stellt sich freilich heraus, dass diese Aussagen vom Vorgesetzten Schmenkels stammen. Diesen selbst trifft Polewoi erst später und prüft die Informationen nicht nach: »Da ich über den Lebenslauf dieses ungewöhnlichen Partisanen bereits informiert war, quetschte ich meinen neuen Bekannten nicht erst über sein Leben aus.« Schmenkel wiederum war »bemüht, so wenig wie möglich über sich zu sprechen«. Bemerkenswert ist, dass die ursprüngliche Reportage 1943 aus politischen Erwägungen nicht gedruckt wurde. Erst Jahrzehnte später veröffentlicht Polewoi einen Text über das Treffen, der indes offenkundige Fehler enthält. So berichtet er, der Orden »Held der Sowjetunion« sei von Breshnew an Schmenkels Witwe überreicht worden.

Auf viele historisch und politisch Interessierte übten die Berichte über Schmenkels Partisanenleben eine große Faszination aus. Historiker aber merken an, dass sich ein gehöriger Teil der Informationen nicht verifizieren lässt. Auch Blechschmidt räumt ein, dass es in den als »Tatsachenberichten« bezeichneten Publikationen »romanhafte Elemente« gebe und Differenzen in wichtigen Details auffallen. Der angebliche SA-Mord an Schmenkels Vater taucht bei Polewoi und im ersten Buch von Neuhaus auf, in dessen zweitem Buch und bei Gladkow nicht. Tatsächlich ermittelte die Staatssicherheit später, dass der Vater kein KPD-Mitglied war und erschossen wurde, als er betrunken einen Polizisten angriff. Bei Gladkow heißt es auch, Schmenkel sei erschossen worden. Tatsächlich belegt ist, dass die Todesstrafe durch Erhängen vollstreckt wurde, was als unehrenhaft galt.

Blechschmidt räumt eine gewisse »Heroisierung« der Überlieferung ein, die er generell aber für plausibel hält. Kohlhaas und Parzer urteilen harscher: Im Interesse der Erinnerungspolitik in der DDR sei für Schmenkel »das Bild eines antifaschistischen Kämpfers mit lupenreiner Vergangenheit« gestrickt worden, schrieben sie 2021 in einem »Kalenderblatt« der Torgauer Gedenkstätte. Je mehr Büsten es von ihm gab, um so mehr sei die eigentliche Person Fritz Schmenkel »im dichten Nebel des Antifaschismus verschwunden«. Er sei, sagt Parzer, »auf einen roten Olymp gehoben« worden.

Der »Schmenkel-Soldat« Blechschmidt ist über derlei Äußerungen verärgert. Das Andenken an den Deserteur und Antifaschisten, das nach 1989 ohnehin einem »Gesinnungs- und Sachvandalismus« zum Opfer gefallen sei, werde weiter beschädigt. Er spricht von einer »Räuberpistole der Erinnerungspolitik«. Elisabeth Kohlhaas dagegen betont, Schmenkels »Akt der Verweigerung« verdiene höchste Anerkennung, auch ohne dass es dafür biografischer Ausschmückungen bedürfe. »Er war einer von wenigen, die sich dem Vernichtungskrieg der Nazis entzogen und widersetzt haben«, sagt die Gedenkstättenleiterin. Sie merkt an, dass viele derjenigen, die in Torgau künftig vorgestellt werden, widersprüchliche Lebensläufe hätten: »Wir müssen keine Helden aus ihnen machen und können sie trotzdem würdigen.« In der neuen Dauerausstellung, fügt sie an, werde Schmenkel keinen Platz finden können. Die riesige Büste würde die Ausstellungsfläche von gerade einmal 300 Quadratmeter zu sehr dominieren. Aber vielleicht, sagt Kohlhaas, »machen wir zu ihm irgendwann eine Sonderausstellung«.

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