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Die Räuber kommen

Russlands Krieg zielt auch auf Zerstörung ukrainischer Kultur und Erinnerung

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Nach einem russischen Angriff zerstört: Das Lokalgeschichtliche Museum in Mariupol, das mittlerweile von Russland kontrolliert wird.
Nach einem russischen Angriff zerstört: Das Lokalgeschichtliche Museum in Mariupol, das mittlerweile von Russland kontrolliert wird.

Der Pulitzerpreis-Träger Jeffrey Getleman und Oleksandra Mykolyshyn veröffentlichten in der »New York Times« eine Recherche zu einem Nebenschauplatz des russischen Angriffskrieges: der Plünderung ukrainischer Museen. Nein, stopp: Dieser Schauplatz – neben den Raketen auf Zivilisten, Stromleitungen und Eisenbahnlinien – ist natürlich keine Nebensache. Der Raub von Kulturgut ist ein Angriff auf die Geschichte und das nationale Gedächtnis.

Cherson in der Südukraine. »Eines Morgens Ende Oktober 2022«, schreiben Getleman/Mykolyshyn, »sperren Dutzende russische Soldaten eine Straße im Zentrum ab und umstellen ein schönes altes Gebäude. Fünf Lkw und Militärfahrzeuge fahren vor. Russische Agenten huschen ins Haus. Ein sorgfältig geplanter, hoch organisierter Vorstoß im Stil eines militärischen Angriffs – auf ein Kunstmuseum.« An den vier Folgetagen wird das Regionale Kunstmuseum Cherson ausgeräumt.

So wie Russland die Ukraine mit tödlichen Raketenschlägen traktiert, plündert es einige der bedeutendsten Kunstschätze der Ukraine. Internationale Experten sagten schon im Herbst, der Kunstraub in der Ukraine könne »der größte kollektive Kunstraub sein, seit die Nazis im Zweiten Weltkrieg Europa plünderten«. Allein in Cherson hätten die Invasoren bis Anfang 2023 mehr als 15 000 Kunstgegenstände gestohlen. Ukrainischen Behörden zufolge haben die russischen Streitkräfte bislang über 30 Museen ausgeraubt oder beschädigt, darunter mehrere in Cherson, das die Ukraine im November vorerst zurückholte, weitere in Mariupol und Melitopol, zwei russisch besetzte Städte. Da Ermittler die Verluste an Ölgemälden, antiken Stelen, Bronzegefäßen, Münzen, Halsketten und Büsten laufend katalogisieren, dürfte die Zahl geraubter Kunstgüter mit Fortdauer des Krieges weiter steigen.

Die Plünderungen sind keine zufälligen Ausraster. So wie es seit Invasionsbeginn Raub, Folter, Vergewaltigung, Entführung und Massaker durch russische Soldaten gibt, zeigt sich auch hier ein Muster. Es ist ein Generalangriff auf ukrainische Kultur und Identität, ganz im Geist von Russlands Präsident Putin, der bereits 2008 dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush gesagt hatte, die Ukraine sei »kein richtiges Land«, sondern Teil »Großrusslands«. Damit begründet Putin seinen Anspruch auf eine »natürliche« Interessensphäre und auf Einmischung bis hin zu Krieg.

Die Ukraine kämpft mehrere Schlachten zugleich. Städte und Dörfer liegen im Geschütz- und Raketenfeuer. Kampfdrohnen beschießen kritische Lebensadern, stürzen Zivilisten in Dunkelheit, Kälte und Obdachlosigkeit. Große Teile des Landes sind russisch besetzt, jeder dritte Ukrainer war im ersten Kriegsjahr gezwungen, sein Zuhause zu verlassen und zu flüchten. Doch selbst in dieser Lage sammeln Kunstexperten Beweismaterial für eine spätere Anklage. In schummrigen Büros in eisigen Gebäuden ohne Licht und Heizung erstellen sie Listen vermisster Kunstobjekte. Zudem arbeitet die Ukraine mit internationalen Organisationen wie dem Art Loss Register zusammen, der weltweit größten Datenbank verlorener und geraubter Kunstwerke in London. James Ratcliffe, Generalanwalt des Art Loss Register, sagt: »Aktuell hält jeder im Kunstmarkt Ausschau nach Raubkunstobjekten. Jedes Auktionshaus, dem Kunst aus der Ukraine angeboten wird, stellt viele Fragen.«

Seine Organisation habe bis Jahresbeginn über 2000 Kunstgegenstände aus der Ukraine registriert, die als gestohlen gelten. Viele weitere seien gefährdet, darunter Malereien aus dem Kunstmuseum Cherson sowie skythische Goldfunde aus einem Museum im okkupierten Melitopol. Als Skythen werden Reiternomadenvölker bezeichnet, die ab 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres besiedelten.

Zuletzt erklärte der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, selbst Archäologe von Rang, man sehe »beinahe stündlich«, wie die Liste der zerstörten Kulturdenkmäler in der Ukraine wächst. »Es werden nicht nur Kirchen, historische Gebäude, Museen, Bibliotheken und Archive attackiert. Auch wertvolle Objekte sind verschwunden.« Das Museum in Melitopol besitze bedeutende skythische Goldfunde. »Es häufen sich Anhaltspunkte, dass neben gezielten Kulturzerstörungen auch Kunst- und Kulturgüter geplündert und illegal gehandelt werden, ganz ähnlich wie beim sogenannten Islamischen Staat in Syrien.«

Russlands Krieg hat auf kulturellem Gebiet auch andernorts Folgen: In der Unesco, der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation, musste der russische Botschafter Michail Alexandrowitsch Fedotow als Präsident des Welterbekomitees zurücktreten. Der Druck der Unesco-Mitglieder, die Präsidentschaft wegen der Aggression niederzulegen, war übermächtig geworden. Bis in den ersten Kriegsherbst hinein war es Moskaus Propaganda zunächst gelungen, international den Eindruck zu verbreiten, Kulturstätten würden bei Russlands Feldzug geschont. Mit dem 21. November war diese Lüge passé: Eine auf diesen Tag datierte »verifizierte Liste« verzeichnete seit 24. Februar »95 religiöse Stätten, 17 Museen, 78 Gebäude von historischer und/oder künstlerischer Bedeutung, 18 Denkmäler sowie 10 Bibliotheken«, die vom russischen Militär beschädigt oder zerstört worden waren. Auch die Unesco versah die Zahlen mit »mindestens«, da täglich neue hinzukämen.

Laut Unesco gehören zur Denkmalliste der Ukraine über 3000 Denkmäler. Am schwersten getroffen worden seien bisher Kulturstätten in der Region Donezk (63), den Regionen Charkiw (53), Kiew (32), Luhansk (26) und Tschernihiw (15). Insgesamt registrierte die Unesco Schäden an 218 Standorten. Die Erhebung erfolgt gemäß Bestimmungen der Haager Konvention von 1954 für den Schutz kulturellen Eigentums bei bewaffneten Konflikten.

In seinem Klassiker »1984« schrieb George Orwell einst zwei Sätze, von denen man annimmt, dass er bei ihnen die stete Umdeutung der Vergangenheit in Russland beziehungsweise der Sowjetunion im Auge hatte: »Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.« Die international sehr erfolgreiche Moskauer Dichterin und Schriftstellerin Maria Stepanova, Jahrgang 1972, schrieb in der »FAZ« über ideologisch motivierte Neuinterpretationen der Geschichte: »Der Sieg im Zweiten Weltkrieg war wohl das einzige historische Faktum, über das in Putins Russland Einigkeit herrschte. Alles andere und alle anderen – Iwan der Schreckliche und Stalin, Peter der Große und Lenin, die Revolution von 1917 und der Zerfall der Sowjetunion, der Große Terror der 1930er und die Reformen der 1990er Jahre – waren und sind bis heute umstritten, und der Streit darüber wird im Lauf der Zeit immer hitziger, eine Art Erinnerungsbürgerkrieg, in dem niemand mit niemandem übereinstimmt.«

Doch wenn der damalige Krieg, so Stepanova, »den Knoten eines wie auch immer heterogenen ›wir‹ geschürzt hat, dann gilt dasselbe auch für den jetzigen – auf verheerend andere Weise: Wir verteidigen uns nicht, sondern überfallen, wir tun genau das, was damals uns angetan wurde – wir dringen in ein fremdes Land ein, wir bombardieren Schlafende, besetzen friedliche Städte und Dörfer. Wir sind heute genau jene Kräfte des Bösen.«

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