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- Johan Simons: »Der Würgeengel«
Das Geheimnis der Bienen
Johan Simons’ »Der Würgeengel« feierte seine Leipziger Premiere
Damit die Zeit nicht stehen bleibt», mahnt das Bühnenbild, ein trostloser Wartesaal, den angegraute Menschen in verwaschenen Trainingsjacken behausen. Mit jeder routinierten Wiederholung – Anstellen, Warten, Teetrinken – verliert der Satz mehr Buchstaben. Christoph Marthalers Theaterabend von 1993 «Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!» bannt das absurde Lebensgefühl am Ende der DDR auf die Bühne. Vereinzelt und sprachlos vegetieren die Schauspieler vor sich hin und finden nur im Singen von Volksliedern für einen Moment zusammen. Bis 2006 war diese Inszenierung in der Volksbühne zu sehen, das Gefühl des Wartens ohne Ziel überdauerte die Nachwendejahre.
Die gleiche Unzeit erfüllt die Bühne in Johan Simons «Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs» nach dem Film von Luis Buñuel. Eine Diner-Gesellschaft, gekleidet in Perlenketten und Smokings, wartet darauf, dass sich die erste Person verabschiedet und endlich verschwindet. Alle versuchen es, aber niemand kann den Raum verlassen. In Angela Obsts Textfassung des surrealistischen Klassikers von 1962 tragen die Figuren die gleichen Vornamen wie die Schauspieler*innen. Während die sechs Mimen zwischen Gesangs- und Tanzeinlagen darum ringen, die Zeit der Aufführung zu überbrücken, klagen sie darüber, an die Bühne gefesselt zu sein. «Die Ratten verlassen das sinkende Schiff», spricht Sandra Hüller prophetisch.
Aber was verdammt die Gäste zum Untergang? Die Bourgeoisie verbringt Tage vielleicht Wochen zusammengedrängt in einem Salon, ihre Sätze wiederholen sich in Schleifen und Triebregungen, bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche. Roman Kanonik und Anne Cathrin Buhtz beginnen miteinander zu schlafen, andere küssen sich leidenschaftlich. Hunger und Durst zerren an den Nerven, Schauspieler Marius Huth spielt einen todkranken, der droht zu sterben. Es wird lächerlich existentiell. Selbstmitleid schlägt um in gewaltvolle Schuldzuweisungen: «Es ist zwecklos. Wir sind verloren. Warum hast du mich hierhergeschleppt?» Dabei gibt es einen Ausweg aus ihrem Martyrium, der als Signal aus der Zukunft in diese Zeitdiagnose dringt.
Das Kind, gespielt abwechselnd von Rubin de Quero oder Lotte Rinke, unterliegt nicht dem Bannspruch, der die Erwachsenen zum Nichtstun zwingt. Sie kann kommen und gehen, wie es ihr gefällt. Selbstbewusst öffnet die junge Schauspielerin den hinteren Eingang, dessen Licht einen rettenden Korridor ins Dunkel der Bühne wirft, und hält einen Vortrag über das gemeine Perlboot. Der im indischen Ozean und westlichen Pazifik lebende Kopffüßer ist bedroht: Überfischung und Zerstörung des Lebensraums gefährden die schneckenförmigen Meereslebewesen. Diese im Stile einer Schulpräsentation aufbereiteten Fakten sind keine Anklage, eher eine nüchterne Intervention in die irrationalen Vorgänge auf der Bühne.
Um den Bann des Abends zu brechen, greifen die Gäste auf das eigentlich den Kindern zugeschriebene magische Denken zurück. Ihre Versicherungen: «Wir befinden uns doch nicht in einem Zauberschloss», halten nicht lang, dann beruft man sich auf Flüche und Opferungen.
Neben den Erwachsenen Schauspielern, die sich als Klasse darstellen, die ihr Ende kommen sieht, leuchtet die Einfachheit der Szenen mit de Quero, die sich in Leipzig mit Rinke abwechselt. Etwas später folgt eine Lesung aus dem Bio-Buch, das nützliche Fakten über Bienen bereithält. Die Insekten treffen Entscheidungen über einen Ortswechsel als Schwarmintelligenz. Jede Stimme zählt gleich viel, jede Information wird in die Entscheidung einbezogen, um zum besten Ergebnis zu kommen. An diesem Vorgehen scheitern die eingesperrten Partygäste.
In der Inszenierung des Bochumer Intendanten tritt das Kind als Souverän gegenüber den wahnsinnigen Erwachsenen auf, die in einem von Johannes Schütz als Klassenzimmer gestalteten Bühnenbild nachsitzen müssen. Ohne den Klimawandel explizit zu thematisieren, wird die Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig zu einer treffenden Parabel für den Umgang mit Krisen. Es herrscht rasender Stillstand, der sich immer weiter beschleunigt, aber nirgendwo hinführt. Wiederholt rennt Sandra Hüller im flatternden Abendkleid zum Bühnenrand. Im alarmierten Zustand singt sie seufzend und stöhnend Popsongs von Portishead bis Billie Eilish und schafft so komische Höhepunkte. Ihre Auftritte sind nur Verzögerungstaktik, die auch über die Wiederkehr des Immergleichen auf der Bühne reflektieren. In gemeinsamen Chorälen, begleitet von den Organisten Laura Wasniewski und Moritz Bossmann, finden die sechs Spieler zusammen, wie ihre Marthalerschen Vorfahren. Aber die Kantate «O Ewigkeit, du Donnerwort» hat ihre sakrale Tragkraft im Arrangement von Steven Prengels verloren. Schräg schreien sie die Verse heraus, die keinen Beistand mehr bedeuten.
Sind die Menschen dazu verdammt auf einer Dinnerparty zu verdursten, weil niemand sich aufraffen kann zu gehen? Simons Inszenierung kratzt am Anthropologischen. In die Ecke gedrängt werden die wohlerzogenen Bürger zu missgünstigen, stinkenden Hyänen, die unfähig sind, sich gemeinsam aus ihrer Lage zu befreien. Darin drückt sich ein Gefühl von Ohnmacht und Panik aus, das den Regisseur persönlich, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene verfolgt. «Warum mache ich das überhaupt?», fragt er sich bei jeder neuen Inszenierung. Was muss man in Anbetracht multipler Krisen auf der Bühne spielen? Und kann es überhaupt einen Unterschied machen? Als der Intendant 2018 in Bochum anfing, wusste er, dass der Klimawandel sein Theater beschäftigen würde.
Am 3. März, der Premiere des «Würgeengels» in Bochum, demonstrierte die Fridays-for-Future-Bewegung solidarisch mit ver.di für die Verkehrswende unter dem Motto «Morgen ist es zu spät.» Zwischen der Dringlichkeit auf der Straße und der Lähmung auf der Bühne, zeigt sich der gesellschaftliche Widerspruch, den Simons bearbeitet.
Dass es auch anders geht, dass die Apathie im Angesicht des Klimawandels nicht zur menschlichen Natur gehört, dafür steht das Kind, die von jungen Menschen getragenen Klimabewegungen. Wie in der sozialistischen Theaterpädagogik betont wurde, ist die Jugend eben nicht nur Produkt der Umstände und der Erziehung. Sie trägt eine schöpferische Kraft mit sich, die in den realen Lebensprozess eingreift. Wenn Erwachsene Kinder im Theater sehen, schreibt Walter Benjamin im «Programm eines proletarischen Kindertheaters», werden sie sich, wenn sie nicht komplett verblödet sind, schämen, denn «[w]ahrhaft revolutionär wirkt das geheime Signal des Kommenden, das aus der kindlichen Geste spricht».
Weitere Vorstellungen: 4. und 14.4. (Schauspiel Leipzig), 18.3. und 19.4. (Schauspielhaus Bochum)
www.schauspiel-leipzig.de
www.schauspielhausbochum.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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