Ukraine und Russland: Angebote für seinen »Sieg im Frieden«

Aus Verhandlungen müssten Russland und die Ukraine sich Vorteile versprechen können

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.
Wann schaffen es Russland und die Ukraine wieder an den Verhandlungstisch?
Wann schaffen es Russland und die Ukraine wieder an den Verhandlungstisch?

Über ein Jahr bereits übertönt Schlachtenlärm alle Appelle der Vernunft. So engagiert sie auch hervorgebracht werden, die unzähligen Friedensappelle verdeutlichen vor allem eines: Ratlosigkeit. Stattdessen wächst Zwietracht, auch mangels einer Friedensbewegung, die Grundlagen für einen kleinsten programmatischen Nenner finden könnte. Und: Wer mag sich noch Debatten im Bundestag für und gegen Waffenlieferungen anhören? Alle Argumente sind schon hundertfach ausgetauscht. Überdies mag sich kein Vertrauen in das diplomatische Geschick von Politikern einstellen, da diese nicht einmal den Versuch unternommen haben, »back channels« zu öffnen, mit denen sich diskret Möglichkeiten lebensrettender Kompromisse ausloten ließen. Rational, ohne moralische Erwartungen.

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Es gibt ein Völkerrecht, Moskau vergeht sich an ihm und den ukrainischen Nachbarn. Das Recht der Völker wieder herzustellen, verlangt mindestens den Rückzug der Invasoren und die Einstellung aller Kampfhandlungen. Doch das lässt sich im Moment nicht durchsetzen, denn: Moskau wie Kiew sehen Chancen auf einen Sieg im Krieg. Trotz tausender Opfer geht es der russischen Führung nicht darum, taktische Überlegenheit zu erlangen, um der Ukraine am Verhandlungstisch Zugeständnisse abzuzwingen. Die Ukraine wiederum hält trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit Moskaus Attacken stand. In Kiew sieht man eine reale Chance, den Krieg siegreich zu beenden und die komplette territoriale Souveränität, wie sie vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 bestand, wiederzuerlangen.

Moskau und Kiew sind durch die Verfassung der jeweiligen Staaten sogar zum Sieg verpflichtet. Putin hat in »seiner« die Eingliederung von vier vormals ukrainischen Regionen in die Russische Föderation festgeschrieben. Damit hat er sich und allen Nachfolgern die Hände gebunden. Territoriale Kompromisse sind ebenso für die Ukraine undenkbar, denn auch deren Verfassung bezieht die vier umstrittenen Gebiete samt Krim ein. Welcher Präsident auch immer die jeweilige Bindung infrage stellen würde, könnte den kommenden Tag – zumindest politisch – nicht überleben. Auf beiden Seiten geht es also um die Legitimation des jeweiligen politischen Systems. Mit globalen Auswirkungen.

So kommt es zu der paradoxen Situation, dass der Krieg sich gleichsam selbst verlängert. Solange die Kampfhandlungen nicht in einem endlosen Zermürbungskrieg feststecken, der eine Führungsmacht mit samt ihrem jeweiligen militärisch-wirtschaftlichem System untergräbt, so lange haben Verhandlungen keine Chance, sagen Experten. Es sei denn, es gelingt beiden Seiten einen – wie der US-Historiker Stephen Kotkin in der »Washington Post« jüngst schrieb – »Sieg im Frieden« schmackhaft zu machen.

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Klar ist, der sogenannte Ukraine-Krieg hat aus vielen Gründen ein globales Stadium erreicht, das ein »Einfrieren« durch eine Scheinlösung à la Minsker-Abkommen nicht mehr möglich erscheinen lässt. Auf lange Sicht bedarf es einer neuen »Schlussakte von Helsinki«. Eine solche auf Vernunft und Vertrauen gegründete Friedensordnung, die über Europa hinausgeht, hat einen langen Prozess zur Grundlage, ist also aktuell keine Option, um das Gemetzel zu stoppen. Dazu braucht es einen Waffenstillstand. Dass so ein erster Schritt langfristig berechenbare Stabilität bringt, zeigt der Korea-Krieg (1950-1953) und die vereinbarte Linie zwischen beiden Koreas entlang des 38. Breitengrades. Über alle Widrigkeiten hinweg bietet sie eine berechenbare und damit beherrschbare Lage.

Dazu braucht es einen Moderator. Anders als oft behauptet, muss die verhandelnde Drittpartei nicht »neutral« sein. Wohl aber muss sie über gute Beziehungen nach Moskau wie Kiew verfügen und eigene Interessen an einer Lösung im Osten Europas haben. Wem dabei China einfällt, liegt womöglich richtig damit. Das Land will ein weiteres östliches Vordringen des westlichen Systems verhindern. Es muss also, um sich auf die Abwehr im Pazifik vorzubereiten, ein Interesse daran haben, dass der »kleine Bruder« Russland nicht noch instabiler wird. Peking weiß sehr wohl, dass eigene Waffenlieferungen keine Garantie für einen Sieg Moskaus wären. Gleichfalls wäre ein Einsatz russischer Atomwaffen auch aus Pekings Sicht Wahnwitz. Ein Waffenstillstand hat zwei Voraussetzungen. Erstens braucht es Blauhelme, die ihn unter UN-Mandat sichern. Auch da wäre China die erste – weil von Russland, der Ukraine und den westlichen Staaten – zu respektierende Wahl.

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Manches beginnt im Kleinen, warum nicht bei Anne Will in der ARD? Als der ehemalige Linke-Bundestagsabgeordnete Jan van Aken, der für die Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet, die Idee mit chinesischen Blauhelmen an einer Demarkationslinie im Osten der Ukraine vorbrachte, hörte Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, interessiert zu. Der frühere Berater von Kanzlerin Angela Merkel, der die Russen kennt, am Minsker-Prozess mitwirkte und deutsche Interessen in der Uno vertrat, merkte jedoch an, dass man »an dem Punkt« noch nicht sei. Putin werde verhandeln, wenn er merke, dass er seine Ziele nicht erreichen könne. Rationalist, der er ist, weiß Putin das vermutlich. Um seinen erfolglosen Truppen ein Haltezeichen zu geben, braucht er Angebote für seinen »Sieg im Frieden«. Die planmäßige Aufgabe aller westlichen Sanktionen und die Garantie einer Nato-freien Ukraine wären wichtige Teile davon.

Einen ähnlichen »Sieg im Frieden« muss man Kiew unterbreiten, denn Präsident Wolodymyr Selenskyj kann nicht einfach so den Status quo akzeptieren, also von Russland erobertes Gebiet »hergeben«. Um zunächst die restlichen 80 Prozent des Territoriums und tausende Menschenleben zu retten, braucht die Ukraine Sicherheitsgarantien. Die können nur von den USA kommen, die über den »Umweg Ukraine« womöglich auch einen vertrauensvollen Kontakt zu China aufbauen könnten. Hauptbestandteil des ukrainischen »Sieges« könnte die gesicherte Aufnahme in die EU sein. Die dann jene Mittel, die jetzt das Militär auffrisst, dazu benutzt, die Ukraine – wirtschaftlich, demokratisch, rechtsstaatlich – zu einem Schaufenster des Westens zu machen. Dafür muss man Kiew die Vorteile eines langen Atems vermitteln. Wer wäre dazu besser geeignet als Deutschland? Es hat 40 Jahre gedauert, bis der Osten dem durch den US-Atomschild gesicherten Westen zufiel. Solche Prozesse zu nicht-kriegerischer Überlegenheit laufen heute gewiss schneller ab. Auf der Zeitachse Zukunft kann sich viel ergeben.

Hilfreich wäre es, wenn hierzulande – zumindest mitregierende SPDler – nicht gleich Pickel bekommen, wenn der Name ihres Genossen Egon Bahr (1922-2015) fällt. Vom »Chefdiplomaten« Willy Brandts könnte man lernen, mit kleinen Schritten Gräben zu überwinden. Bedingung: Statt auf »werteorientierte« Außenpolitik zu setzen, muss man nüchternen Ausgleich suchen. Ist es wirklich absurd, sich in knapper Zukunft ein Passierscheinabkommen und einen kleinen Grenzverkehr in der Ostukraine vorzustellen? Warum sollte es nicht gelingen, von einem Postabkommen über Handelsvorteile zu einem Grundlagenvertrag zu gelangen? Wichtig: Jede Seite muss sich Vorteile versprechen können, die alles, was man durch fortgesetztes Morden erreichen kann, überwiegen.

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