Annie Ernaux: Einen jungen Mann lieben

Die Liebe ist fast so gut wie Schreiben: »Der junge Mann« von Annie Ernaux

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 3 Min.

Man stelle sich einmal vor: Ein Professor, Mitte 50, frisch getrennt nach 25 Jahren Ehe, lernt in seinem Seminar eine 30 Jahre jüngere Studentin kennen, mit der er ein Liebesverhältnis beginnt. Eine zwar nicht überall gern gesehene, aber doch allzu gewöhnlich erscheinende Konstellation.

Irritierend wirkt dieses Gedankenspiel absurderweise, wenn die Geschlechterrollen getauscht werden: Was, bitte – so der affektiv aufkommende Gedanke –, will ein 24 Jahre junger Student mit einer Mitte 50-jährigen Frau, die alterstechnisch gut und gerne seine Mutter sein könnte? Diese Frage stellt sich nicht zuletzt die Protagonistin in Annie Ernaux’ neuer autofiktionalen Erzählung »Der junge Mann«: Sie ist nicht gerade entspannt, wenn sie sich mit ihrem jüngeren Liebhaber Hand in Hand in der Öffentlichkeit zeigt. Sie seien anstößiger als ein homosexuelles Paar, stellen die Verliebten dabei fest.

Doch die Frage kann natürlich auch umgedreht werden: Was erwartet die Protagonistin von dem Liebesverhältnis? Zum Beispiel Motivation zum Schreiben. »Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen«, schreibt Ernaux zu Beginn der Geschichte. Denn erst, so fährt sie fort, wenn »die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus«, würde sie zu der Einsicht gelangen, dass es »nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben«. Diese wie so oft bei Ernaux schonungslose Einsicht wird für sie schließlich zur zunächst unbewussten Motivation, ein Liebesverhältnis mit A. – einem ihrer Studenten – einzugehen, der schon länger ein Auge auf seine Lehrerin geworfen hatte.

Dabei gibt sie unumwunden zu, dass sie 30 Jahre vorher nicht das geringste Interesse an ihm gehabt hätte. Denn A. repräsentiert mit seinen legeren Verhaltensweisen, Marotten und Gewohnheiten jenes proletarische Milieu, aus dem die Erzählerin sich einst mit Mühe befreit hatte. Über viele Jahre hatten ihr die vornehmen Verhaltensweisen ihres aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden Ex-Mannes die eigenen Unzulänglichkeiten ihres Herkunftsmilieus widergespiegelt.

Mit A. ist es nun umgekehrt: Sie ist die gestandene Frau aus gutem Hause, mit Leidenschaften für die schönen Dinge im Leben – Theater, Literatur und gutes Essen etwa –, sodass sie für A. nun zur Initiatorin auf dem steinigen Weg Richtung Bürgertum wird. Erst durch diese Machtasymmetrie wird die intime Beziehung der beiden ungleichen Protagonisten überhaupt möglich.

Zugleich genießt die Protagonistin die jugendlichen Albernheiten und Sticheleien, die von A. ausgehen und denen sie sich lustvoll hingibt. Doch bei aller Freude stellt sich dabei nie ein Gefühl der Leichtigkeit ein, hat sie doch insgeheim den Eindruck, eine »Wiederholung« von etwas längst Vergangenem zu inszenieren, das über viele Jahre verloren schien. Diese langsam in ihr wachsende Einsicht mündet schließlich in einen Abnabelungsprozess von A. und in der rudimentären Schilderung eines Schreibprozesses, an dessen Ende Ernaux’ Buch »Das Ereignis« stehen wird, das jüngst auch verfilmt wurde.

In einer gewohnt nüchternen Sprache seziert die in der Nähe von Paris lebende Schriftstellerin dabei ihre Innenansichten, die sie aus verschiedenen Winkeln spiegelt und die dadurch immer auch zu gesellschaftlichen Momentaufnahmen werden – sei es in Bezug auf das Frausein oder auf jene lebenslang anhaltenden Gefühle der Minderwertigkeit, die sie bezüglich ihres Herkunftsmilieus empfindet und die in der vorliegenden Geschichte durch die Umkehrung ihrer Vorzeichen kompensiert werden.

Klar wird dabei eines: Erfahrungen lassen sich nicht einfach abschütteln. Sie lassen sich aber zu einem Ende bringen, wie Ernaux eingangs schreibt. Und zwar, indem die Dinge niedergeschrieben werden. Durch die vorliegende Erzählung ist für die Literaturnobelpreisträgerin des vergangenen Jahres somit ein weiteres Kapitel ihres Lebens abgeschlossen, dem hoffentlich noch viele weitere folgen werden.

Annie Ernaux: Der junge Mann. A. d. Franz. v. Sonja Finck. Suhrkamp, 48 S., geb., 15 €.

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