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Existenzangst statt Kopf frei für Ideen
Aktionskonferenz der GEW konstatiert: Wissenschaftsbetrieb setzt weiter auf Befristungsunwesen
Seit einigen Tagen sorgt wieder einmal ein Video aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für Frust unter Beschäftigten des wissenschaftlichen Mittelbaus. »Research Wonderland Germany« lautet sein Titel. Es zeigt eine junge Frau auf der wissenschaftlichen Erfolgsspur in verschiedensten Situationen. Und suggeriert, dass Studierenden und Promovierenden in Deutschland alle Wege für eine Karriere in der Forschung offenstünden. Weil das aber in der Realität in aller Regel eben nicht der Fall ist, empören solche Filmchen wie schon jenes zur Erläuterung der Möglichkeiten des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) 2021 so viele in der Wissenschaft Arbeitende.
Im Video von 2021 schilderte in einem Animationsfilm eine Doktorandin namens Hanna, wie gut sie ihre Forschungskarriere planen könne. Die Darstellung sorgte zunächst im Internet, vor allem auf Twitter, für einen Aufschrei. Wissenschaftlerinnen begründeten die Initiative »Ich bin Hanna« und schilderten unter diesem Schlagwort (Hashtag) ihre Erfahrungen als sich von Kurzzeitvertrag zu Kurzzeitvertrag hangelnde Nachwuchsakademikerinnen. Diese prekäre Daseinsform zieht sich für viele der rund 800 000 in Lehre und Forschung Beschäftigten an Hochschulen, Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen bis weit ins vierte Lebensjahrzehnt hinein. Frauen in der Wissenschaft verzichten immer noch sehr oft auf Kinder. Andere wechseln am Ende lieber in einen sicheren Job in der Wirtschaft.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kämpft seit über einem Jahrzehnt gegen das »Befristungsunwesen« an den deutschen Hochschulen. Im vergangenen September veröffentlichte sie sogar einen Entwurf für ein »Wissenschaftsentfristungsgesetz«, das das WissZeitVG ihrer Ansicht nach ablösen sollte. Und sie hofft darauf, dass die Ampelregierung sehr bald ihr Versprechen einlösen wird, das Gesetz grundlegend zu reformieren.
Man sei stolz darauf, dass SPD, Grüne und FDP sich in ihrem Koalitionsvertrag die GEW-Forderung »Dauerstellen für Daueraufgaben« zu eigen gemacht hätten, sagte deren stellvertretender Vorsitzender Andreas Keller am Mittwoch auf einer von der Gewerkschaft veranstalteten »Aktionskonferenz« in Berlin. Er ermunterte die Parteien, Teile des GEW-Gesetzentwurfs zu übernehmen. Abschreiben sei hier ausdrücklich erwünscht. Er äußerte die Erwartung, dass das von Bettina Stark-Watzinger (FDP) geführte BMBF in Kürze den für diesen Winter beziehungsweise Anfang 2023 angekündigten Entwurf für ein reformiertes WissZeitVG vorlege.
Von der GEW veranlassten Studien zufolge waren an den Unis 2021 noch immer 84 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen befristet beschäftigt, an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) 78 Prozent. Im Schnitt beläuft sich die Vertragslaufzeit an Unis auf 18 Monate, an HAW nur auf 15 Monate. 42 Prozent der befristeten Verträge an Unis haben sogar eine Laufzeit von unter einem Jahr. Laut dem geltenden Zeitvertragsgesetz können Hochschulen und Forschungsinstitute Wissenschaftler*innen vor der Promotion sechs Jahre, nach der Promotion weitere sechs, in der Medizin sogar weitere neun Jahre in Kettenbefristungen beschäftigen.
Freilich muss in den Verträgen irgendetwas von »Qualifikation« stehen, der das Beschäftigungsverhältnis laut Gesetz neben vielem anderen dienen soll. Da aber der Qualifizierungsbegriff vollkommen undefiniert ist, lässt sich das Gesetz sehr leicht missbrauchen, was die Einrichtungen wegen allgemeiner Finanzknappheit auch sehr häufig tun.
Damit sieht die GEW insbesondere die Regierungsparteien in der Verantwortung, in einem reformierten Gesetz Klarheit zu schaffen. Wie die Gewerkschaft wollen auch die auf der Konferenz anwesenden Vertreter*innen der Koalition den Qualifikationsbegriff vor allem auf den Abschluss der Promotion begrenzen. Wer danach einen befristeten Vertrag erhalte, um sich etwa zu habilitieren, müsse, sofern er die gesteckten Qualifizierungsziele erreiche, auch die Sicherheit bekommen, dass es danach eine unbefristete Stelle gebe, betonten die anwesenden Fachfrauen der SPD- und der Grünen-Bundestagsfraktion, Carolin Wagner und Laura Kraft.
Beide bekannten sich zudem zu einer Mindestdauer von befristeten Verträgen von vier Jahren. Wagner betonte zugleich, bei einer Vollzeitpromotionsstelle müsse der für das Erstellen der Doktorarbeit vorgesehene Zeitrahmen mindestens 50 Prozent betragen. Zugleich verwies Kraft darauf, dass die Neufassung des Gesetzes nur ein Element einer Reform der Wissenschaftslandschaft sein könne, die wegen der schlechten Bedingungen dramatisch an Attraktivität verloren habe. Ein Problem ist nämlich, dass viele Beschäftigte an Unis und Forschungszentren auch über nicht vom WissZeitVG erfasste Verträge noch weiter befristet beschäftigt werden können, sofern die entsprechenden Projekte mit privaten Drittmitteln finanziert werden. Mit ihren Forderungen kamen zumindest die Vertreterinnen von SPD und Grünen denen der Gewerkschaft ziemlich nah.
Was sich allerdings im Gesetzentwurf der Ampel davon wiederfinden wird, ist noch offen. Jens Brandenburg (FDP), Staatssekretär im BMBF, überbrachte den Tagungsteilnehmern die Botschaft, dass »eher in Tagen als in Wochen« ein Eckpunktepapier zur Reform des WissZeitVG vorliegen werde. Danach werde das Ministerium zügig einen Referentenentwurf erstellen.
Keller erklärte derweil, warum die GEW ihre Veranstaltung »Aktionskonferenz« genannt habe: Einerseits wolle man die Regierenden zum »Agieren« anregen. Andererseits gelte es klarzumachen, dass man nicht nur »Gewitter auf Twitter« auslösen könne, so Keller in Anspielung auf die Kampagne »Ich bin Hanna«. Vielmehr müsse man »zeigen, dass hinter uns die Hunderttausenden Wissenschaftler stehen, dass wir auch auf die Straße gehen und dass wir bündnisfähig sind«.
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