Kleinere Entlastungen für die Briten

Regierung will Betreuungsangebote ausbauen, doch die Massenstreiks im öffentlichen Sektor halten an

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Am vergangenen Mittwoch standen weite Teile des öffentlichen Lebens in Großbritannien still. Die meisten Schulen in England waren geschlossen, an den Flughäfen waren die Schlangen vor der Zollkontrolle länger als üblich, die Krankenhäuser mussten mit weniger Ärztinnen auskommen. In London fuhr keine U-Bahn. Rund eine halbe Million öffentliche Angestellte hatten an diesem Tag die Arbeit niedergelegt, darunter Lehrerinnen und Lehrer, Grenzbeamte, Transportangestellte und Assistenzärzte. In vielen Städten zogen Streikende in Protestmärschen durch die Straßen. Es war einer der größten Streiktage seit Jahrzehnten.

Die Gewerkschaften hatten bewusst dieses Datum gewählt, denn am Mittwoch war »Budget Day«: Der britische Finanzminister Jeremy Hunt stellte im Unterhaus seinen Haushaltsplan für die kommenden Jahre vor. Die Lohnabhängigen im öffentlichen Sektor brachten erneut ihre Forderung nach besserer Bezahlung vor, die im Zentrum einer seit neun Monaten andauernden riesigen Streikwelle steht. »Pay up!« stand auf den Schildern, die viele Streikende hochhielten: »Bezahlt uns!«. Aber wer sich von Hunt mehr Unterstützung zur Bewältigung der steigenden Lebenshaltungskosten erhofft hatte, wurde weitgehend enttäuscht.

Hunt schlug zuversichtliche Töne an, was die Prioritäten der Regierung anbelangt: »Wir werden es schaffen, die Inflation zu halbieren, die Staatsschulden zu reduzieren und das Wachstum anzukurbeln«, sagte er. Der Finanzminister hatte das Glück, dass die Prognosen des Rechnungshofs Office for Budget Responsibility (OBR) vergleichsweise optimistisch ausfielen: Das Land werde dieses Jahr an einer Rezession vorbeischrammen, zudem soll die Inflation bis Ende des Jahres auf rund drei Prozent sinken – derzeit liegt sie noch bei etwa zehn Prozent.

Der Finanzminister kündigte zudem zwei Maßnahmen an, die viele Briten finanziell entlasten werden. Erstens wird der Energiepreisdeckel von derzeit 2500 Pfund für eine durchschnittliche Familie weitere drei Monate lang beibehalten; ursprünglich sollte er auf 3000 Pfund steigen. Zweitens werden die Subventionen für die Kinderbetreuung ausgebaut: Künftig können Eltern ihre Kinder schon ab einem Alter von neun Monaten bis zu dreißig Stunden pro Woche kostenlos in die Krippe schicken können – derzeit ist das erst ab drei Jahren möglich. Darüber hinaus aber gibt es wenig, worüber sich die britischen Normalverbraucher freuen könnten.

Die Haushaltspläne der britischen Finanzminister sind meist voll von Optimismus und großen Versprechen. Erst in den Stunden und Tagen danach, wenn sich unabhängige Ökonomen über die Zahlen und Wirtschaftsprognosen beugen und die Pläne eingehend studieren, wird klar, was tatsächlich dahinter steckt.

Die Reaktion von Wirtschaftsexpertinnen auf die Vorlage fiel eher verhalten aus. Sie äußerten zum Beispiel Zweifel an der Finanzierung des Betreuungsangebots – es fehlten die entsprechenden Details. Zudem blieben viele Haushalte trotz besserer Prognosen in großen finanziellen Schwierigkeiten, sagte Paul Johnson, Direktor des Thinktanks Institute for Fiscal Studies. Er verwies darauf, dass Hunt die Benzinsteuer einfrieren werde, was sechs Milliarden Pfund koste, aber bessere Gehälter für streikende Angestellte des öffentlichen Sektors abgelehnt habe. »Das ist eine politische Entscheidung: Es gibt Geld für Autofahrer, aber nicht für Krankenpfleger, Ärzte und Lehrer«, sagte Johnson.

Auch andere Ökonomen zeigten sich skeptisch. Der Thinktank Resolution Foundation prognostiziert, dass die verfügbaren Einkommen eines durchschnittlichen Haushalts in fünf Jahren noch immer niedriger sein werden als vor der Covid-Pandemie. Zudem habe Schatzkanzler Hunt völlig ignoriert, dass die öffentlichen Dienste unter großem finanziellen Druck stehen. »Die grundlegenden Herausforderungen in Großbritannien bleiben dieselben«, schlussfolgerte Torsten Bell, Vorsitzender der Resolution Foundation. »Wir investieren zu wenig und wachsen zu langsam. Die Lebensstandards unserer Bürger stagnieren. Wir verlangen von ihnen, höhere Steuern zu zahlen, während die öffentlichen Dienste beschnitten werden.«

Bessere Nachrichten für die Lohnabhängigen kamen am Donnerstag – zumindest für die Angestellten des Gesundheitsdienstes NHS. Offenbar machen die Gespräche zwischen den Gewerkschaften und dem Gesundheitsministerium Fortschritte, manche Medien berichteten, dass die Regierung ein verbessertes Lohnangebot auf den Tisch gelegt habe und eine Einigung kurz bevorstehen könnte. Das wären auch gute Nachrichten für die anderen streikenden Angestellten: Ein Deal im Gesundheitswesen wäre ein Zeichen dafür, dass die Streiks nach vielen Monaten Wirkung zeigen.

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