• Politik
  • Agrarpolitik in Brasilien

Die Landlosen melden sich zurück

Mit dem Regierungswechsel in Brasilien hoffen die Besitzlosen auf mehr Unterstützung und eine nachhaltige Agrarpolitik

  • Knut Henkel, Porto Seguro
  • Lesedauer: 7 Min.
Mit dem Sieg von Lula da Silva erlebt auch die Landlosen-Bewegung MST einen Aufschwung. Im Bundesstaat Bahia hat sie die Stadtverwaltung von Santa Cruz Cabrália besetzt.
Mit dem Sieg von Lula da Silva erlebt auch die Landlosen-Bewegung MST einen Aufschwung. Im Bundesstaat Bahia hat sie die Stadtverwaltung von Santa Cruz Cabrália besetzt.

Manoel da Lapa steht vor der kleinen Holzbühne, die am oberen Ende der geräumigen, rund 15 Meter hohen Scheune steht, in der einmal Tausende von Kaffeesäcken bis zu ihrem Verkauf lagerten. Früher war da Lapa selbst einer von rund fünfhundert Arbeiter*innen, die auf der Kaffeefinca São Benedito J.U. schufteten. Heute koordiniert der mittelgroße, stämmige Mann von Anfang 60 die Landbesetzung der Initiative MST auf der mehr als 1200 Hektar großen Farm. Die drei Buchstaben, die für die »Bewegung der Landarbeiter ohne Boden« stehen, lassen bei Großgrundbesitzern die Alarmglocken schrillen. Für viele Landlose und Kleinbauern sind sie dagegen ein Hoffnungsschimmer.

Die knallrote Baseballkappe von Manoel da Lapa ziert das Logo der Organisation: ein Bauernpaar mit Machete vor dem Umriss Brasiliens. An der Seite der Mütze steht der Zusatz: 35 Jahre MST, darunter Bahia. So lautet der Name des Bundesstaats im Nordosten Brasiliens. Ganz im Süden Bahias befindet sich der Verwaltungsbezirk Prado, für den Manoel da Lapa derzeit die Landbesetzung koordiniert. »Wir müssen dafür sorgen, die produzierten Lebensmittel zu vermarkten und vertreten die Besetzung nach außen«, erläutert er. Außerdem sei auch die innere Organisierung wichtig und der Austausch auf lokaler und regionaler Ebene – »und natürlich mit den Anwälten«, fügt er hinzu.

»Pré-assentamento Egídio Brunetto« nennt sich die seit August 2015 laufende Besetzung. Mehr als 120 Familien nehmen daran teil. Jede hat rund zehn Hektar Ackerland erhalten und etwa 5000 Setzlinge, um die Produktion von Robusta-Kaffee wieder aufzunehmen; aber eben auch Saatgut, um Gemüse und Früchte zu produzieren, erzählt der MST-Koordinator. Einer der Bauern, Jairo Guzman, nickt zustimmend. Die haben vor der Bühne Papayás, Limonen, Bananen, Ananas, aber auch Paprika, Bohnen und Chilischoten in Körben und Schalen dekorativ aufgestellt. Mit der Präsentation, die an ein Erntedankfest erinnert, wollen die Familien zeigen, wie sie mit einfachen Mitteln Lebensmittel auf den über Jahre brachliegenden Böden produzieren. »Was uns fehlt, ist größeres Gerät, Traktoren, um zu pflügen und die Produktion auszuweiten«, meint Jairo Guzman und deutet auf den aus Hülsenfrüchten, Chilischoten und Tomaten geformten Schriftzug vor der Bühne: »Reforma Agraria MST«. Eine Agrarreform ist das erklärte Ziel der 1984 gegründeten MST-Bewegung, die mittlerweile in 24 von 26 Bundesstaaten sowie im Hauptstadt-Distrikt Brasilia präsent ist. Landbesetzungen sind neben Demonstrationen und eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit wichtige Ansatzpunkte der Bewegung. Außerdem unterhält sie eigene Agrarschulen.

Die Landlosen-Bewegung war in den letzten vier Jahren unter der reaktionären Regierung von Ex-Präsident Jair Bolsonaro unter enormen Druck geraten, resümiert Liu Durães do Rosário. Die 39-jährige Afro-Brasilianerin, die alle Liu nennen, ist in der MST-Bewegung aufgewachsen und heute Koordinatorin in der Ebene von Bahia. »Wir waren in der Defensive. Unsere nicht weit entfernte Schule, Egídio Brunetto, wo Bauern aus der Region lernen können, wie sie erfolgreich gesunde Bio-Lebensmittel produzieren, war die Drehscheibe des Widerstands«, erinnert sich die quirlige Frau mit dem Lockenkopf und der rauen, mitreißenden Stimme. Sie versteht es, den Ton zu treffen, Mut zu machen und zu motivieren. Erst Anfang Februar war sie bei der Besetzung der lokalen Stadtverwaltung von Santa Cruz Cabrália dabei. »Da haben wir mit MST-Aktivist*innen aus dem gesamten Verwaltungsbezirk Prado gegen die miese Infrastruktur protestiert, gegen den Mangel an guten Lehrern an den Schulen unserer Kinder, die langen Schulwege und die Ignoranz des zuständigen Bürgermeisters«, erklärt Liu Durães kämpferisch.

Noch vor ein paar Monaten waren derartige Auftritte schwer zu realisieren, der Wahlsieg von Lula da Silva hat dem MST aber Auftrieb gegeben und Liu Durães gehört zu den Aktivist*innen, die dafür plädieren, die Landlosen-Bewegung sichtbarer zu machen. Besetzungen wie die der Stadtverwaltung von Santa Cruz Cabrália gehören dazu, aber auch die Einrichtung eines kleinen Bioladens mit MST-Produkten und einem Restaurant in der Kolonialstadt Puerto Seguro oder die Durchführung von Veranstaltungen zum Bioanbau an der Schule Egídio Brunetto. Wieder sichtbarer werden, lautet die Devise von Liu Durães und ihren Mitstreiter*innen, und deshalb ist sie auch wieder mehr unterwegs. Heute besucht sie die ehemalige Kaffeefinca São Benedito J.U.

Sie will Manoel da Lapa zur Seite stehen und zugleich die Chance ergreifen, um vor den mitgereisten Journalisten aus erster Hand über die Entwicklung der Landlosen-Organisation zu berichten. Die Besetzung der Kaffeefarm sei eine typische MST-Aktion gewesen. Die habe schon zwei, drei Jahre brach gelegen und sei zuvor schon negativ aufgefallen. »Arbeitsrechte sind systematisch verletzt worden«, erzählt da Lapa »Ich habe erlebt, dass ein von einer Schlange gebissener Arbeiter nicht umgehend ins Krankenhaus gebracht wurde, er hätte sterben können«, schimpft er. »Wir wurden von Pistoleros permanent eingeschüchtert, es herrschten sklavenähnliche Arbeitsbedingungen.« Diese Einschätzung teilt David, ein weiterer ehemaliger Arbeiter. Die Löhne seien sehr spät bezahlt worden. Dagegen habe kaum jemand etwas gesagt, weil die Angst vor den Pistoleros umging.

Diese bewaffneten Kräfte treten in Brasilien oft als Wachdienst auf. Sie sind eine Mischung aus privaten Bodyguards und Privatarmee und agieren oft für die Großgrundbesitzer. Auf der Kaffeefarm war ein halbes Dutzend dieser Kräfte im Einsatz, die nach dem Ende der Kaffeeproduktion 2014 fast alles abschraubten, was nicht niet- und nagelfest war», erinnert sich Manoel da Lapa. Ob im Auftrag der Familie aus Sāo Paulo, der die Plantage bis heute gehört, oder auf eigene Rechnung, weiß er nicht. Für ihn und die MST ist es hingegen ein Verbrechen, große Flächen brach liegen zu lassen, statt auf ihnen Lebensmittel zu produzieren.

Ein Standpunkt, der sich weitgehend mit der brasilianischen Verfassung deckt. Die definiert in Artikel 186, dass das Land auch eine soziale Funktion habe und adäquat genutzt werden müsse. Auf den Artikel beruft sich die Landlosen-Bewegung und besetzt brachliegende Flächen mittlerweile landesweit, wenn es vor Ort organisierte Familien gibt. In Prado ist das der Fall und in vielen anderen Regionen Brasiliens auch. Bei der neuen Regierung in Brasilia dürfte das eher auf Beifall als auf Kritik stoßen. Zum einen will sie kleinbäuerliche Strukturen stärken und eine nachhaltigere Wirtschaftsstrategie fördern. Zum anderen will sie der einflussreichen Agrarlobby, die das Bolsonaro-Lager unterstützt, die Stirn bieten.

Entscheidungen wie die jüngst erfolgte Legalisierung von Anbau und Verkauf von gentechnisch verändertem Weizen zeugen allerdings nicht gerade von einem Paradigmenwechsel. Diese Entscheidung geht noch auf alte Anträge und auch auf Personal zurück, das unter Bolsonaro eingesetzt worden ist. Die Neuausrichtung der Politik wird noch dauern, sind sich Aktivistinnen wie Manoel da Lapa und Liu Durães einig, aber sie wissen genau, dass der Druck von unten zunimmt. Denn die Ernährungssicherheit von 125 Millionen Brasilianer*innen ist nach vier Jahren unter Jair Bolsonaro nicht mehr gegeben, wie Studien belegen. Der Abbau von Förder- und Schutzprogrammen für eine familiäre Landwirtschaft und bedürftige Bevölkerungsschichten sei dafür mitverantwortlich, kritisieren Sozialwissenschaftler*innen und raten zu einer Kehrtwende.

Die erhofft sich auch Liu Durães von der neuen Regierung und hat gute Argumente dafür auf ihrer Seite: «Wir Kleinbauern produzieren 80 Prozent der Lebensmittel, die in Brasilien konsumiert werden.» Beim MST ist der Optimismus zurück. Die Bewegung glaubt daran, einen Beitrag zur nachhaltigen Erneuerung Brasiliens leisten zu können. Ob das klappt, wird sich bald zeigen – auch auf der ehemaligen Kaffeefinca São Benedito J.U. Dort hoffen die Familien mit Manoel da Lapa darauf, das Land bald übertragen zu bekommen. Tatsächlich geschieht das häufig mit Besetzungen, aber der Prozess einer Legalisierung dauert oft viele Jahre.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.