Auf den Spuren eines kollektiven Traumas

Ein Jahr nach Beginn des großen Lockdowns in Shanghai zeigen sich hinter der Normalität tiefe Narben

  • Fabian Kretschmer, Shanghai
  • Lesedauer: 10 Min.

Wenn Yaqiu* nach ihren Gefühlen gefragt wird, muss sie erst einmal innehalten. »Bislang habe ich noch mit niemandem darüber gesprochen, welche Spuren das letzte Jahr hinterlassen hat«, sagt die Mittzwanzigerin, während sie am kerzenbeleuchteten Tisch eines Thai-Restaurants in Shanghai sitzt. Kellner in dunkler Robe reichen riesige Teller mit Curry und Meeresfrüchten, hinter der Fensterfassade erstrahlen die hell beleuchteten Glastürme der Innenstadt. »Ich verspüre immer noch Wut«, sagt die Büro-Angestellte mit dem schulterlangen Bob-Schnitt schließlich. Und dann, nach einer langen Pause: »Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich mir jemals in meinem Leben um Dinge wie Essen und Wasser Sorgen machen müsste.«

Doch vor genau einem Jahr trennte eine tiefgreifende Zäsur das Leben der 25 Millionen Shanghaier in ein Vorher und ein Nachher. Die Lokalregierung ordnete für die wohlhabendste und internationalste Metropole Chinas eine Abriegelung an, die laut ihrem anfänglichen Versprechen nur vier Tage lang dauern sollte. Doch was schlussendlich folgte, war ein zweimonatiges Martyrium, welches als größter Corona-Lockdown während der gesamten Pandemie in die Geschichtsbücher eingehen wird.

Die Bewohner, hinter ihren Wohnungstüren eingesperrt, waren vollkommen abhängig von staatlichen Essenslieferungen. Auf den gespenstisch leeren Geschäftsstraßen fuhren nur hin und wieder vereinzelte Busse: In diesen saßen die eingesammelten Corona-Infizierten, die in riesigen Quarantäne-Hallen abgeladen wurden, wo sie zu Hunderten auf spartanischen Feldbetten ihre Erkrankung auskurieren mussten.

Was diesen Lockdown so einzigartig machte, war nicht nur seine Radikalität, sondern auch die erzwungene Unsichtbarkeit: Innerhalb Chinas fand die Ausnahmesituation von Millionen Menschen im offiziellen Narrativ praktisch keinen Niederschlag. Die kommunistische Parteiführung nahm das Wort »Lockdown« zu keiner Zeit in den Mund, sondern benutzte ausschließlich Orwell’sche Euphemismen wie »statisches Management« oder »Ruheperiode«. Im Staatsfernsehen liefen in den Abendnachrichten Beiträge über volle Supermärkte mit prall gefüllten Gemüseregalen, während sich die Leute tatsächlich vor Hunger ängstigten.

Nur in den sozialen Medien konnten die Bewohner ihrer Wut Ausdruck verleihen, was jedoch von den Zensoren nach wenigen Minuten ausradiert wurde. Erst durch den Einsatz mutiger Aktivisten konnten viele Zeitzeugendokumente für die Außenwelt dokumentiert werden. Das am meisten geteilte Video war zweifelsohne die »Stimmen vom April«: Während eine Collage aus Luftaufnahmen die stille Geisterstadt zeigt, gibt die Audiospur das Leiden der einfachen Leute wieder: das Schreien infizierter Neugeborener, die unter Zwang von ihren Eltern getrennt wurden. Ein verzweifelter Shanghaier, der seinen im Sterben liegenden Vater vergeblich in ein Krankenhaus einzuliefern versucht. Und Nachbarschaftschöre, die auf Kochtöpfen trommelnd neue Essenslieferungen verlangen. Beantwortet wurden die Hilferufe wie in einem dystopischen Science-Fiction-Film. Die Polizei ließ Drohnen aufsteigen, die über Lautsprecher verbreiteten: »Beherrschen Sie den Drang Ihrer Seele nach Freiheit! Öffnen Sie nicht das Fenster – und singen Sie nicht!«

Wer ein Jahr später durch das frühlingshafte Shanghai flaniert, kann die Bilder des Lockdowns kaum mehr mit der Gegenwart in Verbindung bringen. Nahe der Uferpromenade Waitan lässt sich das Stakkato der Baumaschinen vernehmen. Angestellte in Anzügen und Designer-Kleidung huschen in der Mittagspause in die Cafés. In den Platanen-Alleen des einst Französische Konzession genannten Viertels haben die Mode-Boutiquen wieder geöffnet, und auf den Trottoirs sitzen bereits am Nachmittag junge Hipster und schlürfen sündhaft teure Whiskey-Highballs. Die einzigen sichtbaren Spuren vom vergangenen Jahr sind vereinzelte Corona-Teststationen, die wie verwaiste Ruinen anmuten.

Dass unter der Oberfläche die Traumata nachwirken, weiß wohl niemand besser als George Hu. Der klinische Psychologe vom United Family Hospital hatte bereits im vergangenen Frühsommer, damals noch selbst im Lockdown, die dramatischen Folgen für die kollektive Psyche der Shanghaier erklärt: Die Bedürfnispyramide der Menschen – frei nach dem Erklärungsmodell des US-Wissenschaftlers Abraham Maslow – wurde über Nacht auf den Kopf gestellt. Drehte sich das Leben der meisten Shanghaier zuvor um Selbstverwirklichung, Yoga-Klassen und Work-Life-Balance, wurden sie nun auf ihre elementaren Grundängste zurückgeworfen. »Als der Lockdown begann, gerieten viele von uns plötzlich in eine Situation, in der es schwierig war, überhaupt sauberes Wasser oder genügend Nahrung zu garantieren«, sagte Hu.

Hinzu kam die nicht zu beantwortende Frage nach dem Sinn des Ganzen: Bei vorherigen Lockdowns, beispielsweise zu Beginn der Pandemie in Wuhan, konnte die Bevölkerung die Maßnahmen als durchaus notwendig begreifen. Der Erreger Sars-CoV-2 war neuartig, unbekannt und sehr tödlich. Impfungen lagen in weiter Ferne. Mehr als zwei Jahre später allerdings hatten weite Teile der Welt längst begonnen, mit dem Virus und den Risiken zu leben. Omikron stellte sich als weniger gefährlich heraus. Und Vakzine standen in China seit Monaten in großer Menge zur Verfügung. Dennoch sperrte die Regierung Millionen Menschen in ihre Wohnungen ein.

Hinter den Haustüren offenbarte sich die menschliche Natur in all ihren Extremen. Zutage trat eine Humanität, die wohl wenige Shanghaier zuvor für möglich gehalten hatten: Nachbarn halfen sich mit den zunächst knappen Lebensmitteln aus, organisierten gemeinsame Fensterkonzerte und debattierten erstmals offen über stigmatisierte Themen wie psychische Gesundheit.

Doch bisweilen zeigte sich auch die hässliche Fratze des menschlichen Daseins: Über Wochen weigerten sich ganze Nachbarschaften, genesene Corona-Patienten aus den Quarantäne-Lagern wieder aufzunehmen. Seuchenschutzmitarbeiter prügelten auf Bürger ein, die sich nicht an die pandemischen Schutzmaßnahmen hielten. Und in mehreren Fällen verweigerten Krankenhäuser bei medizinischen Notfällen den Einlass: Menschen krepierten auf offener Straße, weil sie keinen negativen PCR-Test vorweisen konnten.

»Die Leichtigkeit alter Tage ist weg«, sagt auch Bettina Schön-Behanzin von der europäischen Handelskammer. Die deutsche Managerin, die seit über 25 Jahren in Shanghai lebt, steht in einem holzvertäfelten Konferenzzimmer zwischen Obstbüfett und Powerpoint-Präsentation, um das neue Positionspapier des wirtschaftlichen Interessenverbands vorzustellen. Es liest sich ein wenig wie eine »Gelbe Karte« an die Stadtregierung: In 37 Empfehlungen legt die Handelskammer dar, wie sich das angeschlagene Vertrauen der europäischen Unternehmen in Shanghai wiederherstellen ließe, etwa durch größere Marktzugänge. Bezeichnenderweise jedoch wurde das Positionspapier nur wenig später von der chinesischen Online-App Wechat gelöscht – mutmaßlich auf Druck der Zensoren.

Dabei täte die Regierung gut daran, auf die internationalen Firmen zu hören. Schon jetzt haben sie massive Probleme, ausländische Talente nach Shanghai zu entsenden – trotz privilegierter Expat-Pakete, die neben satten Monatsgehältern auch Wohnungsmieten und Heimatflüge beinhalten. Selbst europäische Konsule berichten unter der Hand, dass Chinas führende Wirtschaftsstadt – einst eine Traumdestination für aufstrebende Diplomaten – mittlerweile nur mehr die zweite und dritte Garde an Personal begeistern kann. »Null Covid« hat das Image der Metropole nachhaltig beschädigt.

Natürlich war es kein Zufall, dass ausgerechnet in Shanghai das Ende der radikalen Pandemie-Politik in China besiegelt werden würde. In den Abendstunden des 26. November 2022 versammelten sich spontan Hunderte junger Menschen zu einem friedlichen Trauermarsch. Mit Blumen und Kerzen gedachten sie der Todesopfer eines Wohnungsbrandes in der nordwestchinesischen Stadt Ürümqi: Mindestens zehn Anwohner sind dort gestorben, weil sie offenbar aufgrund der Lockdown-Bestimmungen nicht rechtzeitig gerettet werden konnten.

Die Stimmung bei der Gedenkveranstaltung in Shanghai kippte schon bald in Wut und Frustration. Zunächst schrien einige Studenten wahllose Obszönitäten in den Nachthimmel, um ihre Ablehnung gegen die »Null-Covid«-Maßnahmen auszudrücken. Und wie aus dem Nichts rief eine Frau den in China geradezu unerhörten Satz: »Nieder mit Xi Jinping!« Die Menschenmenge drehte sich ungläubig um und verharrte mehrere Sekunden in Schockstarre. Dann jedoch stimmte sie unisono ein: Erstmals seit den Studentenprotesten vom Tiananmen-Platz 1989 forderten junge Menschen in China den Rücktritt ihrer Regierung.

Die Staatsmacht reagierte, wie sie es in solchen Fällen immer tut: Mehrere Personen wurden verhaftet, etliche weitere zu Verhören geladen. Zudem sorgte der Propaganda-Apparat in Windeseile dafür, dass die Proteste aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert wurden: Online-Zensoren löschten sämtliche Fotos in den sozialen Medien, die Zeitungen erwähnten das Thema mit keiner Silbe, und die Sicherheitspolizei riegelte die gesamte Kreuzung des nächtlichen Aufmarsches vor Morgengrauen mit Gitterzäunen ab. Selbst das Straßenschild »Wulumuqi Lu«, das zum Symbol der Proteste wurde, montierten die Beamten ab – wie, um zu signalisieren, dass es hier absolut nichts zu sehen gibt.

Wer ein Jahr später jenen Ort betritt, findet nur noch eine Kulisse perfekter Normalität vor: Einige Expats sitzen auf der Terrasse eines Weinladens, Schülerinnen in Trainingsanzügen kaufen im Eckladen Limonade und Teigtaschen. Doch hinter der Fassade zeigen sich Risse: An der einen Straßenseite ist an diesem Abend eine mobile Polizeistation mit heruntergelassenen Fenstervorhängen stationiert, auf der anderen Seite ist ein Auto mit zwei jungen Bereitschaftspolizisten geparkt. Ihre wachen Augen nehmen jeden ins Visier, der sich hier länger als nötig aufhält.

Juan* hat sich damals aus Neugierde selbst unter die Menschenmenge gemischt. Der 24-Jährige war fasziniert und gleichzeitig abgestoßen von der spontanen Demo: »Die Leute wussten gar nicht wirklich, was sie überhaupt wollten«, sagt der groß gewachsene Chinese mit langer Haarpracht, der gerade nach einer durchfeierten Nacht den morgendlichen Heimweg antritt. »Sie riefen nur ›Freiheit, Freiheit, Freiheit‹. Aber wessen Freiheit meinten sie damit überhaupt?«

Juan definiert sich als politisch links und der Mittelschicht zugehörig. Bei den Demonstranten jedoch sah er vor allem reiche Jugendliche aus wohlbehütetem Elternhaus, die egoistisch ihre eigenen Privilegien eingefordert hätten und wieder ins Ausland reisen wollten. Um die Situation der einfachen Leute – der Arbeitsmigranten, Tagelöhner und Lieferkuriere – sei es ihnen dabei nicht gegangen.

Auf seinem Weg durch das morgendliche Shanghai kommt der freischaffende Filmemacher, der Redefluss durch Corona-Bier und die ersten Sonnenstrahlen des Tages beflügelt, vom Hundertsten ins Tausende: »Nach außen hin ist alles wieder normal. Wir feiern wieder, du kannst es ja selbst sehen«, sagt Juan. Dann fügt er nachdenklich hinzu: »Aber tief in uns drin hat sich alles verändert.« Nichts sei mehr wie früher, sagt er mit Blick auf die Lockdowns, die tiefgreifende Isolation während der Pandemie, aber auch auf den neuen Kalten Krieg mit den USA und auch den polarisierenden Ukraine-Krieg.

»Natürlich sind die Lockdowns und die Weltpolitik verschiedene Dinge, doch hängen die auch miteinander zusammen«, sagt Juan, bevor er sich vage entschuldigt: Als Chinese könne er gewisse politische Dinge nicht so direkt sagen. Doch zwischen den Zeilen ist seine Botschaft klar: Seit Corona sei nicht nur die Welt aus den Fugen geraten, sondern auch das einst sorglose, kosmopolitische Universum der Shanghaier Millennials.

Die Regierung griff den Zorn innerhalb der Bevölkerung schließlich doch auf. Nur wenige Tage nach den Protesten in Shanghai lockerte sie die Corona-Beschränkungen genau so radikal, wie sie zuvor umgesetzt worden waren: Von einem Tag auf den nächsten gab es keine Lockdowns, keine Zwangsquarantäne und keine Massentests mehr. Die rasante Kehrtwende schockierte selbst jene Mediziner, die zuvor für ein baldiges Ende von »Null Covid« plädiert hatten, denn plötzlich schien eine Durchseuchung mit unkontrollierbaren Folgen das Ziel zu sein.

Der Übergang wird nun von den Staatsmedien als »Wunder der Menschheitsgeschichte« gepriesen. Als Xi Jinping zu Beginn des Monats seine dritte Amtszeit beim Nationalen Volkskongress einleitete, sagte sein neuer Premier Li Qiang: »Mehr als drei Jahre lang hat das chinesische Volk unter der starken Führung der Kommunistischen Partei gemeinsam gegen Covid-19 gekämpft, und jetzt haben wir einen großen und entscheidenden Sieg im Kampf gegen die Krankheit errungen.« Weiter sagte Li, der als Parteisekretär Shanghais auch den zweimonatigen Lockdown der Stadt zu verantworten hatte: »Die Ereignisse beweisen, dass Chinas Strategien und Maßnahmen völlig richtig waren.«

Für die Mittzwanzigerin Yaqiu sind solche Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Auch wenn sie die neue Normalität in vollen Zügen genießt, hat sie, wie sie sagt, die plötzliche und radikale Corona-Öffnung als »Witz« empfunden, denn: »Der ganze Lockdown war praktisch umsonst«, so die Chinesin.

Unter ihren Altersgenossinnen und Altersgenossen steht sie mit ihrer Meinung durchaus nicht alleine dar. Doch praktisch niemand will mehr über die Narben der Vergangenheit reden, die meisten ihrer Freunde wollen sie am liebsten einfach vergessen. Seither hat sich in Yaqiu erstmals eine Empfindung breitgemacht, die sie nicht mehr loslässt: »Ich fühle mich manchmal, als gehöre ich nicht mehr nach China.«

* Um offene Gespräche führen zu können, wurde den chinesischen Gesprächspartnern Anonymität zugesichert.

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