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Justyna Wydrzyńska über ihre Verurteilung: »Das ist politisch«
Obwohl Justyna Wydrzyńska in Polen verurteilt wurde, kämpft die Abtreibungs-Aktivistin weiter
Frau Wydrzyńska, wie haben Sie ihre Verurteilung wahrgenommen?
Ich wusste von Anfang an, dass ich schuldig gesprochen werde. Die Frage war eher, wie hart die Strafe ausfallen wird. In dem konkreten Moment, als mein Urteil verkündet wurde, dachte ich die ganze Zeit: Es geht hier nicht um mich, das hier ist politisch. Ich war nicht überrascht. Aber natürlich war es eine Erleichterung, nicht wie ursprünglich von der Staatsanwaltschaft gefordert, für drei Jahre ins Gefängnis zu müssen.
Warum haben Sie sich dazu entschlossen, einer ungewollt Schwangeren Abtreibungspillen zu schicken, obwohl es in Polen illegal ist?
Als diese Frau Kontakt mit der Abtreibungshotline meiner Organisation Abortion Without Borders aufgenommen hat, war schnell klar, dass sie in einer ungesunden Beziehung ist. Sie bat uns, nicht per Telefon oder E-Mail kontaktiert zu werden, weil ihr Mann ihre Kommunikationswege kontrollierte. Ich habe selber auch in so einer Beziehung gelebt, ich weiß, wie es sich anfühlt. Ob sie abtreibt oder nicht, ist und war ihre Entscheidung. Ich wollte ihr die Möglichkeit geben, eine Wahl zu haben.
Fühlen Sie sich schuldig?
Nein, ich fühle mich überhaupt nicht schuldig. Laut einer Umfrage von Amnesty International hätten knapp 50 Prozent der in Polen lebenden Befragten genauso gehandelt wie ich. Das Gesetz definiert das als Straftat und es sollte geändert werden!
Was sind jetzt die nächsten juristischen Schritte?
Ich werde natürlich in Berufung gehen. Das Rechtssystem in Polen steht auf dem Kopf. Interessanterweise wurde die Richterin, die mich verurteilt hat, noch an jenem Tag befördert. Das zeigt, dass das Urteil nicht fair gefällt wurde.
Als Sie zu acht Monaten gemeinnütziger Arbeit verklagt wurden, machten Sie Witze, diese bei der Abtreibungshotline abzuleisten. Wird das wirklich passieren?
Es war schon ein Witz, aber da steckt viel Wahrheit drin. Ich verstehe mich als Sozialarbeiterin. Unterstützung gibt es auch: Beispielsweise bot mir eine Bibliothek an, bei ihnen die Sozialstunden abzuarbeiten. Dort kann ich am Telefon sitzen und meine Arbeit weiterführen.
Was für persönliche Konsequenzen hat Ihre Verurteilung?
Mein Leben ist genauso wie vorher. Ich habe wahnsinnig viel Unterstützung, auch in meiner Familie. Meine Kinder sind sehr stolz auf mich. Meine Tochter macht super viele TikToks über das Gerichtsverfahren. Und emotional bin ich jetzt viel stärker als am Anfang. Die Polizei und das öffentliche Fernsehen, das von der Regierung geregelt wird, haben mich wie eine Drogendealerin dargestellt, die viel Geld damit verdient, Pillen zu verkaufen. Da war ich sehr besorgt, ob mein Verhalten gesellschaftlich akzeptiert wird. Jetzt bin ich glücklich zu sehen, dass die Gesellschaft die verschiedenen Ebenen meiner Situation versteht.
Was fordern Sie von den Ärzt*innen in Ihrem Land?
Ärzt*innen sollten meiner Meinung nach nicht die Option des Weigerungsrechts haben, wenn es um Abtreibungen geht. Wenn ein Gynäkologe oder eine Gynäkologin diesen medizinischen Eingriff nicht vornehmen möchte, sollten sie den Job wechseln. Denn Teil davon ist, Schwangerschaften abzubrechen. Religiöse Ansichten als Begründung dürfen hier genutzt werden. Das ist so, wie wenn ein Arzt mein linkes Ohr heilt, mein rechtes aber nicht.
Wie haben Sie die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes 2020 in Polen wahrgenommen?
Ich habe geweint, weil mir klar war, wie viele Menschen davon betroffen sind. Viele mussten ins Ausland reisen. Aber es gibt auch Hilfe: Organisationen wie das europäische Netzwerk Abortion Without Borders unterstützen Menschen in diesem Prozess. Seit der Verschärfung wurde so 78 000 ungewollt Schwangeren bei einer Abtreibung geholfen. Ungefähr 2000 davon mussten ins Ausland reisen, die meisten von ihnen waren im fortgeschrittenen Stadium ihrer Schwangerschaft und der Fötus war krank.
Wie hat diese Verschärfung Ihre Arbeit verändert?
Vor dem Urteil im Oktober 2020 hatten wir ungefähr 25 Anrufe von ungewollt Schwangeren pro Tag. Nach dem Urteil waren es 100 Anrufe und die Woche danach 300 Anrufe pro Tag. Da gab es Frauen, die im Krankenhaus auf ihre vereinbarte Abtreibung gewartet haben und auf einmal von den Ärzt*innen gesagt bekamen: Nein, das geht jetzt nicht mehr, sie müssen nach Hause gehen. Obwohl das Gesetz noch nicht mal in Kraft getreten war zu diesem Zeitpunkt. Die Ärzt*innen hatten solche Angst. Und dann helfen wir natürlich. Es gibt nur uns, die helfen. Das ist wirklich hart.
Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?
Wir kriegen viele Spenden, vor allem auch seit der Verschärfung des Gesetzes. Seit zwei Jahren mache ich den Job als Vollzeitbeschäftigung. Und aus Europa hat das Netzwerk Abortion Without Borders beispielsweise finanzielle Unterstützung vom belgischen und französischen Staat bekommen. Abtreibungen kosten Geld, das viele Menschen nicht haben, auch wegen der Corona-Pandemie, der Energiekrise und dem Krieg in der Ukraine. Wir würden natürlich gerne sehen, dass sich die Gesetze ändern und es guten Zugang zu Abtreibungen in Polen gibt. Aber die Menschen brauchen jetzt Hilfe. Deshalb werden wir ungewollt Schwangeren helfen – heute, morgen und für immer.
Wie war das kurz nach Kriegsbeginn, als die ganzen Menschen aus der Ukraine nach Polen geflüchtet sind?
Es war ein Albtraum für uns. Wir haben so viele Anrufe bekommen. Und für Ukrainer*innen ist es in ihrem Land normal, in so einer Situation zum Arzt oder zur Ärztin zu gehen. Und dann müssen wir ihnen erklären, dass sie diese Wahl in Polen nicht bekommen.
Was macht für Sie gute Arbeit in der Beratung von ungewollt Schwangeren aus?
Es ist sehr wichtig, die Person und ihre Entscheidung nicht zu verurteilen. Die Gründe können unterschiedlich sein. Das sollte nicht bewertet werden. Wichtig ist, herauszufinden, was für Unterstützung die Person braucht, zum Beispiel Geld oder eine Begleitperson.
Einige Menschen sagen, Abtreibungen retten Leben. Andere wiederum finden, Leben werden dadurch beendet. Was sagen Sie dazu?
Zuallererst: Das sind zwei sehr unterschiedliche Meinungen. Und darüber diskutiere ich nicht, ich respektiere diese Ansicht anderer Menschen. Es gab sogar einige Momente in meinem Leben, in denen ich das auch so empfunden habe. Beispielsweise erlitt ich eine Fehlgeburt, ein Kind, das ich gerne gehabt hätte. Da hat es sich angefühlt, als ob ein Leben erlischt. Für mich war das in diesem Moment mein Kind, von dem Moment der Empfängnis war das für mich ein Leben. Aber in einer anderen Situation, in der ich mich in einer ungewollten Schwangerschaft befand, war das für mich kein Leben. Mir hat eine Abtreibung das Leben gerettet.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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