- Kultur
- Samuel Meffire
Samuel Meffire: »Wir sollten unsere Wut nicht unterdrücken«
Schriftsteller und Ex-Polizist Samuel Meffire über deutsche Fehlerkultur und die missglückte Wiedervereinigung
Ihr Buch trägt den Titel »Ich, ein Sachse«. Sie sind in Dresden aufgewachsen, wohnen seit 16 Jahren in Bonn. Fühlen Sie sich (noch) als Sachse?
Ja. Ich werde bis zu meiner letzten Stunde mein Ost-Sein in mir tragen, egal, wohin es mich verschlägt. Ich bin ein Sachse. Im glücklichen Exil.
Samuel Meffire, Jahrgang 1970, Sohn eines Kameruner Vaters und einer deutschen Mutter, war in den 90er Jahren Star der landesweiten Imagekampagne »Ein Sachse« gegen Ausländerfeindlichkeit. In seinem Buch »Ich, ein Sachse. Mein deutsch-deutsches Leben«, das Ende März erschienen ist, schildert er seinen Weg vom afrodeutschen Vorzeigepolizisten in Ostdeutschland zum international gejagten Verbrecher. Heute schreibt er dystopische Krimis und lebt mit seiner Familie in Bonn.
Aber bis dahin war es ein langer Weg. Durch das Buch zieht sich die Formulierung »Aushalten mit Schmerz bezahlen«. Wann ist etwas in Ihnen zerbrochen?
Schon sehr früh. Zwei Lektionen meiner Mutter haben mich als Kind geprägt: Die erste Lektion war: »Du bist nirgendwo sicher.« Durch ihr eigenes Trauma schwer verstümmelt und getriggert – insbesondere im besoffenen Zustand – pöbelte meine Mutter und drohte meinem Bruder und mir. Und verprügelte uns. Mein Vater starb am Tag meiner Geburt. Die Umstände, warum er starb, sind bis heute ungeklärt. Wahrscheinlich wurde er vergiftet. Die andere Lektion war also: »Du kannst niemandem trauen.« Mit diesen beiden Leitsätzen im Kopf wuchs ich auf. Und so fuhr ich auch später als Polizist meine Einsätze, die oftmals schwierig und gefährlich waren. Bei mir stellte sich nicht das Gefühl ein, dass ich an einem sicheren Ort bin und den Menschen um mich herum vertrauen kann.
1991 wurde der Mosambikaner Jorge Gomondai ganz in der Nähe Ihrer Wohnung umgebracht. Wie haben Sie die Zeit empfunden?
Nach dem Mauerfall waren in Dresden innerhalb von sechs Monaten bis zu 30 Prozent der Menschen ohne Arbeit und damit ohne Perspektive. Die DDR implodierte. Für viele im Westen war die DDR zudem ausschließlich ein Unterdrückungsstaat, und Existenzen, die im alten System aufgebaut wurden, waren plötzlich nichts mehr wert. Viele Menschen fühlten sich entwurzelt. Die Aggression wuchs rasend schnell. Noch dazu wurden von mittellosen, hungernden Soldaten der abziehenden Sowjetarmee Waffen und sogar Sprengstoff verkauft. Und es gab 1990 kein staatliches Regulativ. Menschen waren verängstigt, weil man sich im öffentlichen Straßenraum ohne Konsequenzen verhalten konnte, wie man wollte. Ich hätte die Polizei anrufen können, aber es wäre keiner gekommen! Die Gruppe, die Gomondai später ermordete, schoss wenige Stunden zuvor mit einer Signalpistole auf mich. Selbst der Weg von meiner Wohnung zur Kaufhalle war quasi »russisches Roulette«. Eines meiner schlimmsten Erlebnisse war, als ein Mob versuchte, mit Gewalt in die Wohnung einzudringen, in der meine Freundin und ich lebten. Uns rettete lediglich eine aufgerüstete Eingangstür.
Ein Jahr später startete die »Sächsische Zeitung« eine Imagekampagne gegen Ausländerfeindlichkeit. Plakate mit Ihrem Gesicht und den Worten »Ein Sachse« zierten die ganze Stadt. Sie wurden in Talkshows eingeladen. Wie haben Sie diese intensive Zeit empfunden?
Ich war damals immer noch ein Junge mit einem großen Rucksack voller unverarbeiteter Probleme. Ich wurde unvermittelt von einem Megahype eingesaugt: Talkshow-Einladungen, Sterne-Hotels, öffentliche Aufmerksamkeit. Für einen instabilen 22-Jährigen war das Gift. Ich umschreibe das im Buch als »Seelenkoks«: berauschend und giftig.
Eigentlich hätte man denken können, dass die Idee von Sachsens Innenminister Heinz Eggert, Sie anschließend zum Vorzeigepolizisten zu küren, ganz gut war. Was ist da schiefgelaufen?
Ein afrodeutsches Gesicht als Beispiel für Diversität in der Gesellschaft sichtbar zu machen, war durch und durch sinnvoll. Der Fehler im Bauplan war allerdings ich. Das hat weder Heinz Eggert wissen können noch die vielen Journalisten, mit denen ich gesprochen habe. Ich habe nach außen hin lediglich einen ausreichend reifen Erwachsenen vorgetäuscht. Es war die richtige Idee am richtigen Ort zur richtigen Zeit mit der falschen Person.
Rechtsextremismus ist nach wie vor auch in Ostdeutschland ein großes Problem. Wie kann man dem begegnen?
Mit einem gewissen Befremden muss ich feststellen, dass die Wiedervereinigung in der Erinnerungskultur auf »Friede, Freude, Fröhlichkeit« reduziert wird. Dass alle Menschen im Osten durch den Mauerfall befreit wurden und alle nun glücklich vereint sind, hat mit meinen Wahrnehmungen wenig bis gar nichts zu tun. Damals ist vieles zerbrochen. All das verlorene Vertrauen und all die Kränkungen gilt es endlich aufzuarbeiten. Sonst geben wir genau das an unsere Kinder weiter. Ich wünsche mir, dass wir miteinander reden und aufhören, in Kategorien wie »die Guten« und »die Bösen« zu denken. Leider ist das die klassisch deutsche Haltung, dass man ausschließlich nach einem Schuldigen sucht, wenn etwas schiefläuft. Mein größter Respekt gilt Nelson Mandela. Die von ihm initiierte »Wahrheits- und Versöhnungskommission« ist ein lichtstarkes Beispiel, wie sich eine Gesellschaft an Heilung versuchen kann. So etwas bräuchten wir für Deutschland.
Aber jetzt ist die Wut da. Wie geht man mit der Wut um?
Wir sollten unsere Wut nicht unterdrücken, sondern lernen, sie als Teil von uns zu akzeptieren. Wut gibt uns die Kraft, zu schwierigen, längst überfälligen Veränderungen. Vor allem junge Menschen sind bewegt von »Sturm und Drang«, von großer Energie und Idealen. Das sollten wir ernst nehmen und nutzen.
Nach Ihrer Kündigung bei der Polizei gründeten Sie eine Sicherheitsfirma. Als Sie Auftragsschwierigkeiten hatten, arbeiteten Sie als Geldeintreiber für den damaligen Rotlichtkönig Felix Fischer. Und das, nachdem Sie jahrelang Polizist waren. Widerspricht sich das nicht?
Ich werde immer danach gefragt, wann ich mich für »die dunkle Seite« entschieden habe. Diesen Kulminationspunkt gab es nicht. Die Überfälle und die extreme Gewalttätigkeit, beispielsweise gegenüber dem alten Ehepaar, das ich überfallen habe, waren ein Symptom dessen, was an Verbiegung und Schmerz in mir wohl bereits seit Kindertagen vor sich hin faulte und wofür ich zu feige war, es endlich zu bearbeiten. Andere haben dafür furchtbar teuer bezahlen müssen.
Wegen Ihrer Verbrechen wurden Sie von der Polizei gejagt, flüchteten über Paris in den Kongo, wo Krieg herrschte. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung?
Ich bin um die halbe Welt geflüchtet. Vergeblich. Denn auch in Paris und in Zaire hockten meine Kopfkino-Dämonen mit vor Ort. Man nimmt sich schlichtweg überall mit hin. Und da war natürlich das beginnende große Morden am Kongo-Fluss. Ich wurde in Zaire sehr krank. Was ich an üblen Dingen in die Welt gebracht hatte, bekam ich als eine Art »bittere Medizin« überreichlich retour.
Sie waren sieben Jahre im Gefängnis, davon zwei Jahre in Isolationshaft. Mittlerweile schreiben Sie dystopische Krimis und führen ein glückliches Familienleben. Was hat Sie verändert?
Das Leben, so banal das auch klingen mag. Der Absturz. Die Haft. Faktische Obdachlosigkeit. Das Stigma des Straftäters. Der Berg an Schulden. Und scheinbar endlose Wellen- und Kreisbewegungen in Therapien und Seelsorge-Gesprächen. Natürlich hat mich auch die Liebe meiner Frau und meiner Kinder verändert, das Gewollt-Sein und das Einwurzeln.
Wie prägt Ihre Vergangenheit Ihre Zukunft?
Einiges setzt sich erst jetzt in meinem Kopf zusammen. Noch immer ergibt es nicht zwingend einen Sinn, es bleiben Lücken. In meiner eigenen Kindheit und Jugend war alles überlagert von Angst und dem Gedanken, funktionieren zu müssen. Als Familienvater wünsche ich mir auf jeden Fall für meine Mädchen – mein Sohn ist ja schon erwachsen –, dass ihre Entdeckungsfreude so lange wie möglich erhalten bleibt. Meine Kinder sollen lernen, dass auch etwas kaputtgehen kann, dass man Fehler machen darf, und daraus lernen und wachsen. Sie sollen Dinge ausprobieren können und mit Offenheit durch die Welt gehen. Und mit Vertrauen.
Samuel Meffire: »Ich, ein Sachse«. Ullstein, geb., 19,99 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.