Waffengewalt in den USA greift um sich

Amokläufe werden vor allem an Schulen zum Alltagsphänomen, doch die Politik tut nichts dagegen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Man hat sich daran gewöhnt: Irgendwo in den USA gibt es eine Schießerei, die Polizei zählt die Toten – und Politikern fällt nichts Besseres ein, als »Thoughts and Prayers« (Gedenken und Gebete) auszusprechen. Nicht einmal Präsident Joe Biden, der – wie andere Vorgänger im Amt – dem ungezügelten Verkauf von Schusswaffen eigentlich einen Riegel vorschieben möchte, sieht Möglichkeiten, um der Gewalt ein Ende zu bereiten, denn der Besitz von Waffen wird von den Bundesstaaten geregelt.

Seit einigen Tagen dürfen beispielsweise Bürger im US-Staat Florida verdeckt Schusswaffen tragen, ohne eine gesonderte Lizenz dafür zu besitzen. Der Senat des Staates verabschiedete mit Zwei-Drittel-Mehrheit eine vom republikanischen Gouverneur Ron DeSantis unterstützte Gesetzänderung – vermutlich will DeSantis mit dem Vorstoß im republikanischen Präsidentschaftsvorwahlkampf Aufmerksamkeit auf sich lenken. Bisher war für das verdeckte Tragen von Waffen ein entsprechendes Training sowie ein Antrag mit Überprüfung des Antragstellers nötig.

Das neue Waffengesetz in Florida wurde nur drei Tage nach der Attacke an einer Privatschule im US-Staate Tennessee verabschiedet, bei der sechs Menschen umkamen. Auch in Florida hatte es in den vergangenen Jahren immer wieder Amokläufe gegeben. 2018 starben an einer Schule in Parkland 17 Menschen, ein Jahr zuvor gab es in einem Nachtklub in Orlando 49 Todesopfer.

Die »Washington Post« hat jüngst dem Thema Waffenbesitz in den USA eine Artikelserie gewidmet und betont: »Eltern tun, was sie können, um ihre Kinder vor allen möglichen Gefahren zu schützen. Wir sperren sie in Autositze und zwingen sie, Helme zu tragen. Wir bringen ihnen bei, wie man eine Straße sicher überquert.« Gleichzeitig gelte aber: »Viele fühlen sich machtlos, wenn es um Waffengewalt geht.«

In den Jahren 2020 und 2021 wurden in den USA mehr Kinder durch Schusswaffen getötet als durch Autounfälle. Seit dem Massaker an der Columbine High School im Jahr 1999 haben über 248 000 Kinder Waffengewalt an Schulen erlebt. Zwischen Januar 2022 und Januar 2023 gab es über 600 solcher Vorfälle.

Waren früher vor allem Revolver in Privatbesitz, so entwickelt sich der Trend derzeit hin zum Kauf von Sturmgewehren. Das AR-15, eine Abart des vom Militär auf Schlachtfeldern benutzen M-16-Sturmgewehrs, avanciert gerade zu einer Art kulturellem Symbol – obgleich Waffen dieses Typs immer öfter Tatwerkzeuge von Amokläufern sind. Bei zehn von 17 der tödlichsten Amok-Attacken seit 2012 wurden die AR-15 eingesetzt.

Dennoch besitzt einer von zwanzig US-Bürgern mindestens ein AR-15 – oder anders gerechnet: Rund 16 Millionen Menschen verfügen über rund 20 Millionen dieser Kriegswaffen für den »zivilen« Markt. Sie unterscheidet sich wesentlich von herkömmlichen Handfeuerwaffen. Das Gewehr hat eine hohe Feuerrate, die kleinkalibrige Munition erreicht eine hohe Geschwindigkeit. Das führt zum sogenannten Blast-Effekt, bei dem lebenswichtige Organe in Gänze zerstört werden.

Zwei Drittel dieser AR-15 wurden in den letzten zehn Jahren hergestellt. Vor allem die bewaffnete politische Gewalt wird durch ihre Verbreitung mit angeheizt. Milizähnliche rechte Gruppen sind – wie zunehmend auch die Polizei – fast durchgängig mit dem AR-15 ausgerüstet. Sie schüchtern Wähler ein, bedrohen Muslime und Juden, organisieren den »Schutz« von Kundgebungen zur Unterstützung von Donald Trump und greifen inzwischen immer öfter auch Regierungsvertreter an. FBI und Heimatschutzministerium haben Rechtsextremisten als das größte Problem im Bereich des inländischen Terrorismus ausgemacht, auch in einem Strategiedokument des Weißen Hauses werden weiße Rassisten und gewalttätige Milizen »als die hartnäckigste und tödlichste Bedrohung« eingestuft.

Doch auch auf der linken Seite des politischen Spektrums wird mit diesen Waffen hantiert. Angeblich brauche man sie – so argumentieren einige linke Gruppen –, um LGBTQ-Versammlungen vor bewaffneten rechten Agitatoren zu schützen, die regelmäßig trans Menschen und Drag-Künstler attackieren. Die Unfähigkeit der Strafverfolgungsbehörden, die nicht einmal den Angriff auf das Kapitol in Washington verhindern konnten, bietet zusätzliche Argumente zum Kauf von Sturmgewehren.

Die »Washington Post« hat gemeinsam mit Experten des Marktforschungsunternehmens Ipsos sieben Monate recherchiert: Sicherheitsexperten, Industrielobbyisten, Mediziner, Juristen, bewaffnete Militante, Überlebende von Massakern wurden befragt. Auch eine repräsentative Stichprobe von AR-15-Besitzern wurde interviewt. 81 Prozent sind männlich, wobei die Anzahl der weiblichen AR-15-Besitzerinnen kontinuierlich steigt.

Die Masse der AR-15-Käufer (48 Prozent) lebt in vorstädtischen Siedlungen, fast die Hälfte im Süden der USA und in Staaten, die Donald Trump im Präsidentschaftswahljahr 2020 gewonnen hat. Insgesamt 41 Prozent wählen republikanisch, nur zehn Prozent geben den Demokraten die Stimme. 56 Prozent der AR-15-Besitzer sind zwischen 40 und 64 Jahre alt, die meisten (74 Prozent) weiß, sie haben zu 67 Prozent keinen Hochschulabschluss. Wer glaubt, die Käufer der Schnellfeuergewehre sind in deren Gebrauch geschult, irrt. Nur 28 Prozent dienten beim Militär.

Warum kaufen sie das Sturmgewehr? Um sich, ihre Familie und ihr Eigentum zu schützen. Das gaben 65 Prozent an, 63 Prozent haben einfach Spaß am Schießen. Auffällig ist jedoch, dass der Verkauf solcher »zivilen« Sturmgewehre immer dann ansteigt, wenn sich – wie etwa vor der Wahl von Barack Obama 2008 – politische Veränderungen andeuten. Gleiches geschah vor den turbulenten Präsidentschaftswahlen von 2020. Die »Washington Post« vermerkt: Auch als mit Sturmgewehren bewaffnete US-Elitekämpfer der Marineinfanterieeinheit »Navy Seals« 2011 den Al-Qaida-Chefterroristen Osama bin Laden zur Strecke brachten, gab es einen AR-15-Kaufboom, denn plötzlich »wollte jeder ein Navy Seal sein«.

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