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Die das »Wakuum« füllen
In der slawischen Minderheit gibt es jenseits der Klischees wie Osterreiten und Trachten eine sehr kreative und vielfältige Kulturszene
An diesem Wochenende ist es wieder soweit: Die Sorben sind bundesweit im Fernsehen. »Einmal im Jahr schaffen wir es in die ›Tagesschau‹«, sagt Robert Lorenc. Anlass ist das Osterreiten, eine traditionsreiche Prozession, bei der Männer in Zylinder und Gehrock auf geschmückten Pferden durch die Oberlausitz reiten, um am Ostersonntag die Auferstehung Jesu zu verkünden. Bilder davon schaffen es regelmäßig in überregionale Nachrichten, manchmal ergänzt durch Aufnahmen kunstvoll verzierter Ostereier. Das, sagt Lorenc, »ist im Wesentlichen, was man im Rest des Landes über uns Sorben weiß«.
Lorenc ist Sorbe und damit einer von geschätzt 60 000 Angehörigen der slawischen Minderheit, die in Ostsachsen und Südbrandenburg ansässig ist. Ihre Vorfahren kamen schon im 6. Jahrhundert im Zuge der Völkerwanderung in die Region. Sie sprechen in Ober- und Niederlausitz jeweils eine eigene Sprache, haben eine eigene, blau-rot-weiße Fahne und genießen gesetzlichen Schutz: Jeder Sorbe, steht in den Sorbengesetzen von Sachsen und Brandenburg, habe »das Recht, seine ethnische, kulturelle und sprachliche Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln«.
Dass es Sorben gibt, ist freilich um so weniger bekannt, je weiter man sich von der Lausitz entfernt. Als Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kürzlich Vorschläge zur Änderung des Namensrechts unterbreitete und dabei auch Sorbinnen zugestehen wollte, die in slawischen Sprachen mit der Hochzeit übliche Erweiterung des Nachnamens um die Endung -owa oder -ina im Ausweis zu vermerken, gab es erboste Reaktionen, die in der Frage gipfelten, warum er sich als Bundesminister um »Ausländer« kümmere.
Derlei Wissensdefizite will eine Wanderausstellung ändern, die Lorenc mit erarbeitete. Der Kulturwissenschaftler vom Sorbischen Institut in Bautzen war Kurator der Schau »Was heißt hier Minderheit?«, die gerade von Prenzlau nach Heidelberg umgezogen ist und danach in Magdeburg, Erfurt und Cottbus zu sehen sein wird. Sie stellt die vier anerkannten Minderheiten in Deutschland vor, darunter neben Friesen, Dänen sowie Sinti und Roma die Sorben. Beim ersten Treffen, erzählt Lorenc, habe jeder Beteiligte einen Gegenstand mitbringen sollen, der seine Minderheit kennzeichnet. Er selbst nahm die Wachstuchdecke mit, auf der seine Familie seit vielen Jahren Ostereier verziert. Auch seine drei sorbischen Kollegen brachten Dinge mit österlichem Bezug mit. Bestätigen die Sorben also selbst das Klischee vom »Ostervolk«, wie Lorenc scherzhaft sagt?
Die Stereotype sind hartnäckig. Wann immer es in Reiseberichten aus der Lausitz oder Reportagen über den Strukturwandel im dortigen Braunkohlenrevier um Sorben geht, werden sie mit Bildern von Ostereiern und Osterreiten illustriert, ergänzt allenfalls um Trachten, die in sorbisch-katholischen Dörfern um Bautzen oder im Spreewald vor allem noch bei festlichen Anlässen getragen werden: weite Röcke, bunt verzierte Brusttücher, weit ausladende Hauben. Nicht wenige Sorben reagieren genervt, wenn wieder ein Artikel oder Film mit den immer gleichen Motiven illustriert wird. Es sei »unsere Crux als Minderheit«, auf wenige Klischees reduziert zu werden, sagt Lorenc: »Die Frage ist, wie man darüber hinaus kommt.«
Vielleicht, indem man Ostereier in Scherben schlägt. In einem Video, das sorbische Künstlerinnen gedreht haben, geschieht das mithilfe eines Trennschleifers aus dem Bastlerbedarf. Das gemusterte Bruchstück hat die Form eines überlangen Fingernagels, wie sie junge Frauen dieser Tage oft tragen. »Nailart ist gerade sehr populär«, sagt Karoline Schneider: »Wir schlagen so eine Brücke von der sorbischen Tradition zur Popkultur.«
Schneider ist Mitglied einer Künstlerinnenvereinigung, die sich »Kolektiw Wakuum« nennt und im Juni 2021 in Cottbus gegründet wurde. Zunächst wollten einige Engagierte ein leer stehendes Geschäft unweit des Hauptbahnhofs mit Leben füllen. Später stellte sich heraus, dass viele von ihnen sorbische Wurzeln haben. So sei die Idee entstanden, moderne sorbische Kultur und Kunst zu befördern. »Ich bin dieser bis dahin vor allem in Museen begegnet, also nur in einer sehr formellen Umgebung«, sagt Schneiders Kollegin Annelie Tschemmer: »Wir wollten sie aus der konservativen Tradition ins Zeitgenössische holen.«
Der Name des Kollektivs ist dabei Programm. Viele der gut zwei Dutzend Mitglieder sehen die sorbische Kultur zu stark in Tradition, Tanz und Tracht verhaftet; im Bereich der Gegenwartskunst und Alltagskultur herrsche dagegen eine gewisse Leere. »Wakuum«-Mitgründerin Maja Schramm beschrieb in einem MDR-Beitrag ihr Gefühl, »zwei Leben« zu leben, die nur schwer unter einen Hut zu bringen gewesen seien: Auf der einen Seite das traditionelle Leben im Dorf, aus dem ihre Familie kommt und wo etwa die »Zapust« genannte niedersorbische Fastnacht gefeiert wird, auf der anderen das Leben in der Stadt mit Konzerten und Antifa-Demos, in dem das Sorbische keinen Platz zu haben schien. Ihre Künstlerkollegin Hella Stoletzki ärgerte sich über den häufig »exotisierenden« Blick von außen und fügte mit Blick auf die starke Fixierung auf Osterbräuche an, auch Sorben feierten ja »nicht das ganze Jahr über Festtage«. Das Bedürfnis der »Wakuum«-Mitglieder sei, »das Sorbische in den Alltag zu holen«.
Das geschah seither mit Ausstellungen, mit Musikvideos, in denen sorbische mythologische Figuren wie die Mittagsfrau auftauchen, oder einer sorbischen Karaoke-Show. Derzeit entsteht ein Projekt namens »Serbski Telewizor«. Zum Programm dieses eigenwilligen sorbischen TV-Programms gehören eine Aerobic-Show im Stil der Achtziger oder eine Sendung, die an den Musikkanal MTV erinnert und in der Videos etwa von sorbischen Rapperinnen zu sehen sein werden. Damit werde Fernsehgeschichte nachgeholt, die es »für die Sorben leider nie gab«, sagt Schneider. Auch heute noch laufen in den Öffentlich-Rechtlichen nur 30 Minuten sorbisches Fernsehen im Monat.
Die Künstlerinnen von »Kolektiw Wakuum« sind nicht die einzigen Vertreterinnen einer reichhaltigen sorbischen Subkultur jenseits von Tracht und starrer Tradition. Bereits seit 1997 gibt es mit dem »Nukstock« ein sorbisches Heavy-Metal-Festival. Mitbegründer Bosćan Nawka, heute Kulturredakteur bei der einzigen sorbischen Tageszeitung »Serbske Nowiny«, berichtet von einer Vielzahl an Bands, die seit der Jahrtausendwende zunehmend auf Sorbisch statt auf Englisch singen. Daneben gebe es Bands wie »Janka Hanka«, die an die Tradition sorbischer Tanzorchester anknüpfen, welche einst auf Dorf- und Familienfesten spielten. Und es gibt Musiker wie Paul Geigerzähler, der einst als Punk startete, vor etwa 15 Jahren aber begann, zu furiosen Violinenklängen und harten Beats auch sorbische Volksweisen zu singen.
Geigerzähler wuchs in einem Dorf bei Bautzen auf, bevor er Hausbesetzer in Berlin-Friedrichshain wurde. So erklärt sich der Name der Band »Berlinska Dróha«, sorbisch für »Berliner Straße«, die er 2007 gemeinsam mit Uta Šwejdźic gründete. Zum Repertoire gehörten neben selbst geschriebenen Liedern auch traditionelle sorbische Weisen und Melodien, die Geigerzähler für ihre eigenwilligen Harmonien und Rhythmen schätzt. Manche der Texte stammen aus einer Liedsammlung von 1841, die Jan Arnošt Smoler veröffentlichte, ein sorbischer Gelehrter, dessen Wirken und Bedeutung oft mit dem der Gebrüder Grimm für das Deutsche verglichen wurde.
Geigerzähler, der heute zu den bekannten Protagonisten moderner sorbischer Folklore gehört, kam dazu über Umwege. Er sei eigentlich »Randsorbe«, sagt er. Ein Urgroßvater war Kantor, Dorfschullehrer und sorbischer Intellektueller. Seine Eltern aber sprachen kein Sorbisch mehr. Bei Feiern in der sangesfreudigen Familie hätten nur einige Tanten sorbische Lieder angestimmt: »Ich habe versucht mitzusingen, was ich hörte, aber ohne die Texte wirklich zu verstehen.«
Es ist eine Geschichte, wie sie junge sorbische Künstler vielfach erzählen. Auch Annelie Tschemmer, in einem sorbisch-katholischen Dorf bei Bautzen geboren, entstammt einer Familie mit sorbischen Wurzeln und besuchte einen sorbischen Kindergarten. Im Alltag aber »wurde überwiegend Deutsch gesprochen«. Karoline Schneider hatte eine Urgroßmutter, die Sorbisch sprach. Ihr Vater beherrschte noch ein wenig »Konsum-Sorbisch«, um sich beim Einkauf mit älteren Dorfbewohnern zu verständigen. Sie selbst lernte die Sprache in der Grundschule, »aber für mich war das eine Fremdsprache«.
Das erklärt, warum die sorbische Sprache an einem kritischen Punkt angelangt ist. Das Obersorbische, Schätzungen zufolge von etwa 15 000 Menschen aktiv gesprochen, gilt in seiner Existenz als gefährdet, das Niedersorbische mit gar nur 5000 Sprechern als ernsthaft bedroht. Das ist zum einen Ergebnis jahrhundertelanger Repression durch die Mehrheitsgesellschaft. Zuletzt verboten die Nazis ab 1937 die Nutzung der Sprache und vertrieben sorbische Lehrer und Geistliche. Zugleich war vor allem in der Niederlausitz und evangelischen Gebieten der Oberlausitz der Druck zur Assimilation hoch. Die Industrialisierung der zuvor ländlichen Region sorgte für starken Zuzug; in gemischten Ehen wurde oft eher Deutsch gesprochen. Mit der Vernichtung vieler Dörfer durch die Braunkohle verschwand deren Kultur. Auch heute noch stellt der starke Wegzug vor allem jüngerer Sorben eine akute Bedrohung für die Sprache dar.
Das ist fatal, weil die gesprochene Sprache als wichtigster Ausdruck sorbischer Kultur gilt – und oft auch als Inbegriff sorbischer Identität. Karoline Schneider bekennt, sie habe lange gezögert, sich als Sorbin zu bezeichnen: »Ich bin ja keine Muttersprachlerin.« Zugleich ist nirgendwo geregelt, dass die Beherrschung der Sprache für das »Sorbischsein« unabdingbar ist, so wie es generell keine formalen Voraussetzungen dafür gibt, etwa Vorfahren mit entsprechender Nationalität. »Zum sorbischen Volk gehört, wer sich dazu bekennt«, heißt es in den Sorbengesetzen von Sachsen und Brandenburg: Das Bekenntnis sei »frei und darf weder bestritten noch nachgeprüft werden«.
Für junge sorbische Künstler wirft das spannende, aber auch schwierige Fragen auf. Bevor »Kolektiw Wakuum« gegründet wurde, habe man intensiv darüber geredet, was sorbische Identität ausmache und »ob und wann wir Sorben sind«, sagt Tschemmer. Paul Geigerzähler thematisiert den inneren Zwiespalt in einem Song: »Sym ja serb, sym ja němc?«, singt er: Bin ich Sorbe, bin ich Deutscher? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht: »Ja njewěm«, heißt das Lied: Ich weiß es nicht. Geigerzähler möchte sich auch nicht festlegen müssen. Zugleich fühlt er sich zu Hause in der sorbischen Nationalität, die im Unterschied zur deutschen in der Geschichte »keinen größeren Schaden angerichtet« habe. Er hoffe, dass sie »nicht eine langsam versinkende Insel ist, sondern langsam wieder Raum nimmt«. Dazu sei es aber unabdingbar, die Tradition »in etwas Heutiges zu transformieren«. Eine traditionelle Weise namens »Palenc«, die er oft singt und die ein Loblied auf selbst gebrannten Schnaps ist, ergänzte er um eine Strophe für die Antifa. Sei diese nicht stark, »kann man nicht in Ruhe trinken«.
Einen ähnlich kreativen Umgang mit Tradition pflegt eine junge Frau, die in Lübbenau im Spreewald das Modeatelier »Wurlawy« betreibt. Sarah Gwiszcz, die sich bei der Namensgebung von weiblichen Spreewald-Geistern inspirieren ließ, hat in Berlin Modedesign studiert und sorgt seit ihrer Rückkehr mit Adaptionen traditioneller sorbischen Trachten vor allem aus dem Spreewald für Furore. 2012 stellte sie beim »Brandenburg-Tag« in Lübbenau eine Kollektion vor, die Motive aus ihrer Heimat und aus Mexiko verband: »Calaveras« genannte bunte Totenköpfe, wie sie zu Allerheiligen in Zucker gegossen werden. Diese auf sorbischen Hauben zu sehen, sei für manche »ein Schock gewesen«.
Inzwischen betreibt Gwiszcz, die Dreadlocks trägt und sich als Punkerin bezeichnet, ein gut gehendes Atelier in Lübbenau. Bei ihren Entwürfen integriert sie Motive und Materialien der Spreewaldtracht in alltagstaugliche Kleidungsstücke. Oft nutzt sie Designs, die an Blaudruck erinnern, eine alte Handwerkstechnik. Viele Kleider sind mit Spitze oder Stickereien verziert. Selbst die markanten Hauben zitiert sie als »Showelement« etwa bei aufwändigen Hochzeitskleidern.
Die Designerin betont, sie stelle keine Trachtenmode her, sondern »Mode, die von den Trachten des Spreewalds inspiriert ist«. Die Nachfrage sei stark: »Das war eine Marktlücke.« Gwiszcz, die als Kind nie Tracht trug und Sorbisch gerade erst lernt, beobachtet unter jungen Menschen ein Bedürfnis, sich durch Kleidung regional zu verankern, ohne klassische Tracht zu tragen. Bestrebungen, diese alltagstauglicher zu machen, »unterstütze ich sehr«, sagt sie. Die Reaktionen reichen von Euphorie bis zu strikter Ablehnung. Für manche sei ihre Mode ein Türöffner: »Sie holen sogar Omas Tracht wieder aus der Truhe.« Andere fürchteten, dass die über Jahrhunderte bewahrte und gegen Widerstände verteidigte Tradition zerstört werde.
Es sind Bedenken, die auch »Kolektiw Wakuum« immer wieder zu hören bekommt. »Man hat Sorge, dass die Tradition abbricht, wenn man ihr nicht streng folgt und sie pflegt«, sagt Annelie Tschemmer, die eine Modernisierung aber für notwendig hält. Ein Beispiel: das Osterreiten. Das ist bisher in der Oberlausitz eine rein männliche Veranstaltung. Als die Filmemacherin Sophia Ziesch 2022 ihren Film »Křižerki« über zwei Osterreiterinnen vorstellte, gab es hitzige Debatten. Tschemmer findet es wichtig, patriarchale Muster auch in der sorbischen Tradition zu hinterfragen. Als Kind, sagt sie, habe sie selbst davon geträumt, beim Osterreiten auf ein Pferd zu steigen. Das will sie heute nicht mehr, weil sie sich von den religiösen Inhalten entfernt hat: »Aber eine Tracht für Osterreiterinnen würde ich gern entwerfen.«
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