Schach-WM startet erstmals seit zehn Jahren ohne Magnus Carlsen

Nachdem Norwegens Superstar abdankte, kämpfen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren um den vakanten Titel

Magnus Carlsen spielt noch Schach. An der klassischen Variante scheint er aber keinen Spaß mehr zu haben.
Magnus Carlsen spielt noch Schach. An der klassischen Variante scheint er aber keinen Spaß mehr zu haben.

Verschwunden ist der Weltmeister nicht. Ganz im Gegenteil: Magnus Carlsen präsentierte sich den Schachfans in aller Welt diese Woche zumindest auf ihren Computer-Bildschirmen. Auf der Champions Chess Tour wurde das zweite von insgesamt sechs über das ganze Jahr verteilten Vorrundenturniere ausgetragen. Nachdem der Norweger das erste im Februar aus dem Homeoffice heraus gewonnen hatte, tat er sich diesmal schwerer. Eine Niederlage gegen den Russen Wladislaw Artemjew gleich zu Beginn am Montag zwang ihn zum Umweg über die Verlierer-Hälfte des Turnierbaums. »Das war ziemlich schlecht. Er hat mich in mehreren Partien ausgespielt, und die letzte war einfach nur schrecklich. Ich habe eine Idee ausprobiert und musste danach eine sehr schlechte Stellung verteidigen«, kommentierte Carlsen die Niederlage – diesmal aus einem schicken Hotelzimmer in Chamonix.

Ginge es nach dem Weltverband Fide, säße Carlsen nicht am Laptop in irgendeinem französischen Ski-Resort, sondern an einem realen Schachbrett in Kasachstan. Schließlich wird in der Hauptstadt Astana ab Sonntag um die höchste Krone des Denksports gespielt: die Weltmeisterschaft im klassischen Schach. Seit 2013 stand Carlsen ununterbrochen an der Spitze der immer noch am höchsten angesehenen Variante. Viermal verteidigte er seinen Titel, doch jetzt will er nicht mehr.

Kurz nach dem Kandidatenturnier in Madrid im Sommer 2022, bei dem sich sein bislang letzter Gegner Jan Nepomnjaschtschi erneut das Recht auf ein WM-Duell erspielt hatte, dankte Carlsen ab. Also tritt der unter neutraler Flagge startende Russe nun gegen den Chinesen Ding Liren an, der in Madrid als Zweiter eigentlich zu den Verlierern gehört hatte, nun aber eine neue Chance erhält.

Im klassischen Schach dauern Spiele schon mal mehrere Stunden, schließlich bekommen beide Kontrahenten von Anfang an 120 Minuten Bedenkzeit und erhalten nach jedem Zug noch mal 30 Sekunden dazu. Sind 40 Züge erreicht, gibt es noch einmal 60 Minuten obendrauf. 20 Züge danach noch einmal frische 15 Minuten. Wer so viel Zeit zum Überlegen hat, macht auf dem höchsten Niveau kaum noch Fehler, und so ist es nicht verwunderlich, dass von den 56 Partien seit Carlsens erstem WM-Duell 43 Remis endeten.

Doch nicht nur das. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich Schach vor allem auf immer beliebter werdenden Online-Plattformen in Richtung der Schnell- und Blitzvarianten entwickelt. Das hat auch das mediale Konsumverhalten der Interessierten verändert, sodass die klassische Variante besonders für junge Fans immer langweiliger wirkt. Welcher Zuschauer wartet schon gern mehr als eine halbe Stunde lang auf nur einen Zug, während der Großmeister jede Variante der Spielfortsetzung durchrechnet, dazu jeden Gegenzug und all die darauf folgenden. Kritiker meinen, klassisches Schach sei zum reinen Rechensport verkommen, während die kürzeren Formen viel mehr Intuition und Kreativität erfordern.

Die der klassischen Variante immanente Langeweile hat aber nicht nur Schachfans erfasst, sondern auch den Weltmeister selbst: Magnus Carlsen. Er hatte keine Lust mehr darauf, sich monatelang ins Trainingslager zurückzuziehen, um dort zig Eröffnungsvarianten mit 20 Zügen und mehr auswendig zu lernen, um vielleicht einen minimalen Vorsprung herauszuarbeiten. Das alles natürlich mithilfe von Supercomputern, die mittlerweile in wenigen Sekunden die besten 30 und mehr Folgezüge berechnen.

»Ich mag dieses Format nicht besonders. Manchmal waren die Matches interessant, hier und da hat mir eine Partie auch mal Spaß gemacht, doch als ich meinen fünften Titel gewann, bedeutete mir das schon gar nichts mehr«, begründete Carlsen im Juli 2022 in einem Podcast seinen Rückzug. »Ich war nur froh, dass ich das Match nicht verloren hatte. Aber das war’s dann auch. Bei einer weiteren Titelverteidigung hätte ich nichts zu gewinnen.«

Natürlich spricht da jemand, der niemandem mehr etwas beweisen muss. Dass Carlsen nach fünf WM-Titeln noch immer der beste Spieler der Welt ist, zeigt nicht nur der Blick auf die Weltrangliste deutlich, in der Norwegens Superstar mit 2853 Elo-Punkten als Spitzenreiter mittlerweile der einzige ist, der über der magischen Marke von 2800 liegt. Nepomnjaschtschi und Ding folgen mit großem Abstand, spielen nun in Abwesenheit Carlsens aber um den vakanten Titel. Der Norweger hatte sich stattdessen im Dezember sowohl die Krone des Weltmeisters im Schnellschach gesichert als auch die im Blitzschach.

Dass die klassische WM dennoch Ziel fast aller Schachprofis bleibt, liegt neben dem Ruhm vor allem am Preisgeld, das hier viel höher ist als bei allen anderen Turnieren. Auch in diesem Jahr erhält der neue Weltmeister 1,2 Millionen Euro, der Verlierer immerhin auch noch 800 000. Zum Vergleich: Auf besagter Champions Chess Tour im Schnellschach mit nur 15 Minuten Bedenkzeit könnte Carlsen maximal 350 000 Euro verdienen, und das auch nur, wenn er jedes Vorrundenturnier und das Finale gewinnt.

Geldsorgen hat der Weltmeister aber längst keine mehr. Bevor ein paar andere Kontrahenten wie der US-Amerikaner Hikaru Nakamura zu erfolgreichen Streamern wurden, war der Norweger dank lukrativer Werbedeals fast der einzige Schachprofi, der es zum Millionär geschafft hatte. Vorsichtige Schätzungen besagen, er sitze auf Konten, Aktienpaketen, Unternehmensbeteiligungen und Immobilien im Wert von 20 Millionen Euro. Eine Million mehr oder weniger tut ihm also nicht mehr weh.

Stattdessen hat Carlsen wieder Spaß am Schach gefunden. Vor allem, wenn es schnell geht. Bei der Speed Chess Championship, einem ebenfalls online ausgetragenen Turnier, bei dem zwei Kontrahenten in insgesamt drei Stunden so viele Partien mit fünf, drei oder gar nur einer Minute Bedenkzeit spielen, wie möglich, unterlag der Norweger Nakamura zwar denkbar knapp mit 13,5:14,5. Doch anders als sonst, wenn Carlsen lieber einen großen Bogen um Interviews macht, wollte er diesmal unbedingt noch erzählen, »wie viel Spaß mir das Match gemacht hat. Klar macht man am Ende eine Menge Fehler, aber auch viele hervorragende Züge. So ein Kampf macht mir richtig, richtig Spaß.«

Auch dass er in Chamonix nun gegen Artemjew jene schlechte Eröffnungsidee einfach mal ausprobierte, anstatt sie einen Supercomputer einfach nur durchrechnen und verwerfen zu lassen, ist Beleg dafür, dass sich der Norweger wieder auf die Ursprünge des Spiels besinnt. Er fühlt wieder instinktiv, wann er besser oder schlechter steht. Er sucht kreativ nach Auswegen aus schlechten Stellungen. Diese Fähigkeiten haben ihn einst an die Weltspitze gebracht, jetzt entdeckt er sie neu für sich.

Der Weltverband kann davon nicht profitieren, schließlich werden die allermeisten jener beliebten Online-Turniere von privaten Anbietern ausgerichtet, an denen Carlsen zum Teil sogar selbst beteiligt ist. Die Fide hat aber noch mit ganz anderen Problemen als einem fehlenden Titelverteidiger zu kämpfen. Vor allem nachdem Jan Nepomnjaschtschi als Herausforderer feststand, erschwerte sich die Suche nach einem Austragungsort für das anstehende WM-Duell. Schließlich werden russischen Athleten seit Kriegsbeginn in der Ukraine in vielen Ländern der Welt die nötigen Einreisevisa verwehrt. So wich die Fide schon für die Schnell- und Blitzschach-Weltmeisterschaften nach Kasachstan aus. Damals wurde in einer der größten Sportarenen Almatys gespielt. Jetzt ist Astanas Fünf-Sterne-Luxus-Hotel St. Regis Austragungsort für den nächsten Titelkampf am Brett.

Auch wenn der Superstar nicht dabei ist, wird die Schachwelt natürlich trotzdem die maximal 14 Partien (bei Gleichstand folgen Duelle im Schnellschach) zwischen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren verfolgen. Auch Carlsen dürfte immer mal in die unzähligen Streams reinschalten, um auf dem Laufenden zu bleiben. Glaubt man seinen bisherigen Bekundungen, ist jedoch nicht mit Wehmut zu rechnen: »Ich schließe nicht aus, dass ich in der Zukunft irgendwann doch noch mal an einer WM teilnehme. Aber ich würde auch niemandem raten, darauf zu wetten.«

Das Online-Turnier in dieser Woche hat Carlsen übrigens nicht gewonnen. Nach drei Siegen in Serie verlor er kurz vor dem Finale doch noch gegen Nakamura – auf eine Art und Weise, die es am echten Brett nie gegeben hätte: Bei einem Damenzug ließ er seine Maustaste zu früh los, weshalb die Dame plötzlich mitten auf dem Brett schlagbar stehenblieb. Nakamura nahm das Geschenk dankend an. Carlsen hingegen gab sofort auf, schlug wütend auf seinen Tisch und ließ ein paar Flüche durchs Luxus-Chalet hallen. Das hatte ihm dann offenbar doch keinen Spaß gemacht. Langweilig war es aber auch nicht.

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