Könnte Olaf Schubert der Sohn von Mick Jagger sein?

Der Film »Olaf Jagger« geht der Frage nach, ob der Dresdener Komiker Olaf Schubert der Sohn von Mick Jagger sein könnte

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Real ist alles, was möglich scheint. Das ist die Voraussetzung jeder kontrafaktischen Geschichtsschreibung. Kontrafaktisch meint die rückblickende Annahme einer mitunter nur minimalen Veränderung des tatsächlichen Ablaufs eines Geschehens – mit dramatischen Folgen. Wie wäre die Geschichte dann weitergegangen? Ein beliebtes Beispiel für diese Art Geschichtsbetrachtung ist das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Was für Folgen hätte es gehabt, wäre es geglückt?

Man kann das Hätte-wäre-wenn-Prinzip auch ins Private verlagern. Regisseurin und Drehbuchautorin Heike Fink hat es mit »Olaf Jagger« getan, einem Film, der jedes Genre sprengt. Hauptdarsteller und Gegenstand des Films zugleich ist Olaf Schubert, der Dresdner Comedian. Aber der ist eine Kunstfigur, denn im normalen Leben heißt er Michael Haubold und ist Kabarettist, Hörspielproduzent und Musiker.

Schubert als Filmfigur begibt sich nach dem Tod seiner Mutter, die einst Redakteurin beim DDR-Jugendsender DT64 war, auf Spurensuche. Die Kunstfigur also geht mit einer ihn tief beunruhigenden existenziellen Frage durch die reale DDR-Popgeschichte. Wir hören im Off Renft mit »Wer die Rose ehrt«, einem der schönsten Lieder der Band, die nach zwei Platten schon wieder verboten wurde. Olaf Schubert räumt zu diesen Klängen den Keller seines Elternhauses auf, findet alte Tonbänder, darunter Radio-Interviews seiner Mutter. Und plötzlich hält er eines in der Hand mit der Aufschrift: Interview Mick Jagger. Er recherchiert und stellt fest: Es ist genau aus der Zeit des ersten Deutschland-Auftritts der Rolling Stones in Münster. Und es klingt echt. Wie kommt eine DDR-Radio-Redakteurin, seine Mutter, nach Münster und wie Mick Jagger auf das Tonband?

Schubert entfaltet einen kriminalistischen Ehrgeiz und findet in Archiven Fotos vom Konzert in Münster, die tatsächlich seine Mutter vor der Bühne der Rolling Stones zeigen. Kann das sein? Er spricht mit Toni Krahl von City, der sagt, dass Mick Jagger und Keith Richards ihn in Ost-Berlin besuchen wollten, nachdem sie »Am Fenster« gehört hätten, aber an der Grenze nicht durchgelassen worden seien. Sie hätten sich durchaus für Ostdeutschland interessiert. Schubert geht zu Hartmut König, den er fragen will, ob eine DDR-Radioredakteurin 1965 einfach nach Münster fahren konnte. Einfach nicht, sagt der, aber unter bestimmten Umständen vielleicht doch. König ist jener FDJ-Oktoberclub-Barde, der mit dem Lied »Sag mir, wo du stehst« das inquisitorische Entweder-oder-Prinzip gegen jenen Aufbruchsgeist stellte, den die musikalischen Anarchisten von Renft verkörperten. Die wollten immer beides: hier und dort sein zugleich – eine Utopie. Schubert trifft immer mehr Leute, die seine Mutter kannten, auch Christine Dähn, damals Moderatorin von DT64. Ich erinnere mich sofort an sie, den besonderen Klang ihrer Stimme. Auch sie spricht über Schuberts Mutter.

So schließt sich nach und nach der Indizienkreis, zuletzt durchs Studium der Stasi-Akten, die den Besuch in Münster und das Treffen mit Jagger dokumentieren. Sollte sie die Band in die DDR einladen? Der Bericht, den sie schrieb, liegt den Akten bei und auch noch ein zweiter, einer über sie von einem mitreisenden IM, der vermutet, sie sei in der Annäherung an Jagger etwas zu weit gegangen.

Könnte also Mick Jagger sein Vater sein? Ein Schock für Olaf Schubert, der sich umgehend in einen rasanten Höhenrausch verwandelt. Kein Wunder, dass er so genial ist, bei dem Vater! Gewiss hat er von ihm sein »rampensäuisches« Temperament. So rast die Spurensuche auf der Grenze von Fiktion und Realität voran, die vom Zuschauer jederzeit hellwache Aufmerksamkeit fordert. Denn die Beweisaufnahme hat ihre Tücken. Aber wie Olaf Schubert richtig sagt: »Wenn der Stein erst einmal rollt, dann kann man nicht mehr einfach sagen: Lassen wir es lieber!«

Ein Medien-Puzzle entsteht nach und nach, das zweifellos etwas Manipulatives hat. Aber gleichzeitig demonstriert es, wie man mit Fakten lügen kann. Sollte die SED-Spitze im Sommer 1965 tatsächlich kurzzeitig überlegt haben, die Rolling Stones als Zeichen von Weltläufigkeit in den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat einzuladen, dann gab es nur ein kurzes Zeitfenster dafür – denn bald schon kam das »Kahlschlag-Plenum«, die brutale Rücknahme von Freiheiten, besonders für die Jugend.

Daran waren die Stones durchaus mitschuldig. Denn nach dem Konzert in Münster am 11. September 1965, wo noch Euphorie herrschte, kippte beim nächsten Konzert am 15. September in der Westberliner Waldbühne die Stimmung völlig. Es kam zu einem in West und Ost gleichermaßen so nicht für möglich gehaltenen Gewaltausbruch der jugendlichen Zuschauer, die randalierten und sich mit Polizisten prügelten. Die Band floh vor ihrem Publikum, und die DDR-Kulturpolitik begann, sich vor den selbst herbeigerufenen liberalen Geistern der Jugendkultur so zu fürchten, dass sie auf die Verbotsbremse trat. DDR-Beat-Gruppen wurden daraufhin massenhaft aufgelöst. 

Und Olaf Schubert? Sagt im Film, er sei 1966 geboren worden, neun Monate nach dem Münster-Konzert. Er beschafft sich eine Haarlocke von Jagger zwecks Gentest und lässt sich anwaltlich beraten. Denn wie viel ist ihm entgangen in der provinziellen DDR als Sohn dieses Rockstars! Kurze Gegenrecherche, weil man als Rezensent schon anfängt, gläubig zu werden: Michael Haubold wurde erst 1967 in Plauen geboren.

Doch die Fabel, immer weiter ausgesponnen, hat etwas auf verrätselte Weise Erfrischendes. Denn sie stellt unsere Neigung bloß, uns die Realität umzuträumen in etwas, das theoretisch durchaus möglich gewesen wäre, aber praktisch nicht passierte. Wie es wirklich war, wissen wir nicht, jedenfalls nicht genau, es bleibt im Halbdunkel der Erinnerung der Beteiligten.

Wie aber erklärt das Schubert im Film seinem Vater, der plötzlich nur noch der »vorgebliche« Vater ist? Gar nicht: »Vati und ich haben alles geklärt wie Männer. Wir haben einfach nicht darüber gesprochen.« Ein deutsches Sittenbild mit viel hintergründigem Witz ausgebreitet, eine bitterböse Parabel auch auf den fortgesetzten Versuch, die Geschichte umzuschreiben, so wie sie einem gerade gefällt.

Oder anders gesehen: Es gibt immer eine verpasste Alternative, mit der sich nichts mehr anfangen lässt. Aber vielleicht liegt gerade darin ihr Wert?

»Olaf Jagger«: Deutschland 2022. Regie und Buch: Heike Fink. Mit: Olaf Schubert, Franz-Jürgen Zigelski, Ursula-Rosamaria Gottert. 95 Min. Jetzt im Kino

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