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Extrem geschüttelt, nicht gerührt
Chemiker haben eine neue, amorphe Form von Eis erzeugt und damit die 20. Variante des gefrorenen Wassers
Ob 007- oder 0815-Job, eines ist zumindest gleich: Die Eiswürfel im Feierabendgetränk bestehen aus hexagonal kristallisiertem Eis. Nun mag das auf den ersten Blick nicht allzu aufregend klingen – doch bei genauerem Hinsehen hat das schnöde Wassereis doch so einige Besonderheiten zu bieten. Eine haben Wissenschaftler jetzt mit Hilfe eines »Cocktailshakers« und Stahlkugeln erschütteln können – und diese könnte auch natürlich auf den Eismonden des Jupiter vorkommen.
Die Rezeptur für Wassereis ist erstaunlich verzwickt: Flüssiges Wasser, H2O, erstarrt bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, der bei Normaldruck und im Beisein von Kristallisationskeimen bei 0 °C liegt, zu einem farblosen Festkörper, der sich als Kristall durch eine sehr regelmäßige Anordnung der Atome auszeichnet. Gewöhnliche Eiskristalle liegen dabei im hexagonalen Kristallgitter vor, das durch ein regelmäßiges Sechseck als Grundfläche beschrieben werden kann. Die Dichte von Eis liegt dabei unter jener von flüssigem Wasser – was den Eisberg majestätisch schwimmen lässt und das Eiswürfelchen angenehm klirrend auf dem Cocktail hält.
Experimente mit Druck und Temperatur
Auf der Erde natürlich vorkommendes Eis liegt nahezu ausschließlich in dieser auch als »Eis-I-h« genannten Variante vor. Doch setzt man Wasser beziehungsweise Eis unterschiedlichen Geheimagenten-Bedingungen aus – sehr »cool« und enormer Druck – dann zeigt die Verbindung bemerkenswerte Eigenschaften. Der deutsch-baltische Chemiker Gustav Tammann war einer der ersten, der um das Jahr 1900 mit Eis unter extremen Drücken und bei sehr tiefen Temperaturen experimentierte. Dabei entdeckte er eine Modifikation von Wassereis, welche im rhomboedrischen Kristallsystem kristallisiert (»Eis II«) und die bei leichter Erwärmung in tetragonal kristallisiertes Eis (»Eis III«) übergeht – das nun sogar dichter als flüssiges Wasser ist.
In Abhängigkeit von den beiden Parametern Außendruck und Temperatur, aber auch durch Entstehungswege (etwa mit oder ohne Kristallisationskeime) und dem »Start-Eis« ließen sich seitdem ganze 20 Modifikationen von Wassereis im Labor produzieren oder nachweisen.
So gibt es etwa eine kubisch-kristalline Variante, in der die Sauerstoffatome in einer Diamantstruktur angeordnet sind: »Eis-I-c«, das womöglich in den obersten Schichten der Erdatmosphäre vorkommen kann. Die Modifikationen »Eis-VI« (tetragonal) und »Eis-VII« (kubisch) bilden sich bei extrem hohen Drücken, bleiben dabei aber in einem weiten Temperaturbereich (selbst bei Zimmertemperatur) stabil. Beide Modifikationen konnten vor einigen Jahren als Einschlüsse in Diamanten nachgewiesen werden, wobei die Festigkeit des Diamantgitters den erforderlichen Druck aufrechthält, der auch bei höheren Temperaturen für die Stabilität der Eismodifikationen sorgt.
»Eis-XI« wiederum weist eine orthorhombische Struktur auf, ist eng mit dem allseits bekannten Normaleis verwandt und unterscheidet sich von jenem nur durch eine spezielle Ordnung der Wasserstoffatome. Ein natürliches Entstehen der stabilen Modifikation, allerdings auf sehr langen Zeitskalen, wurde durch die Entdeckung von »Eis-XI« in 3000 Jahre altem Antarktiseis vor knapp 20 Jahren bestätigt.
»Eis-XVIII« konnte unter gewaltigen Temperaturen und Drücken erzeugt werden, wie man sie eher aus Experimenten der Kernfusion kennt. Mittels einer Diamantstempelzelle, einem Gerät zur Komprimierung winziger Materialproben, werden Drücke erreicht, die dem bis zu 10 000-fachen Druck der Erdatmosphäre entsprechen. Ein solcherart »vorbehandeltes« Eis kann anschließend durch Laserpulse noch weiter komprimiert werden, sodass für winzige Bruchteile einer Sekunde eine neue Eismodifikation ensteht: »Eis-XVIII«, auch superionisches Eis genannt, das aus einem gleichmäßigen Sauerstoffgitter und darin frei bewegten Wasserstoffatomen entsteht – was das Eis so leitend wie ein typisches Metall werden lässt.
Wer sich bei so viel Ordnung nach etwas Chaos sehnt – auch kein Problem: das sogenannte amorphe Eis ist eine Form von festem Wasser, bei dem die Wassermoleküle nicht kristallin angeordnet, sondern völlig unregelmäßig (glasartig) verteilt sind. Bisher kannte man zwei amorphe Varianten, eine mit einer Dichte, die erheblich unterhalb der Dichte von flüssigem Wasser liegt, und eine deutlich darüber – warum es nichts dazwischen zu geben schien, ließ sich bisher nicht zufriedenstellend erklären. Doch nun haben sich Chemiker des University College London und der University of Cambridge genau diese amorphe, goldene Mitte erschüttelt. Mit dem eigentlichen Ziel, kleinste Eiskristalle zu untersuchen, füllten sie auf -195 °C gekühltes, kristallines Eis zusammen mit kleinen Metallkugeln in einen Zylinder, der anschließend mithilfe einer Maschine 20-mal pro Sekunde kräftig durchgeschüttelt wurde (ähnlich einer Kugelmühle). Das überraschende Resultat waren allerdings nicht kleinere Eiskristalle, sondern ein bisher unbekanntes, amorphes Eismaterial – mit der fast gleichen Dichte wie flüssiges Wasser. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass durch die enormen (Scher-)Kräfte die Kristallgitter des Ausgangs-Eises aufgebrochen wurden, was es den Molekülen erlaubte, sich enger und damit zu einer höheren Dichte zusammenzufinden.
Wird bei diesem »mitteldichten«, amorphen Eis anschließend langsam der Außendruck wieder verringert, kann sich erneut ein Kristallgitter ausbilden, wobei bei der neu entdeckten Modifikation eine überraschend hohe Menge an Energie frei wird.
Eisformen außerhalb der Erde
Und an dieser Stelle wird es auch für Astrophysiker spannend. Das Vorkommen einiger kristalliner Eismodifikationen gilt bei Eisriesen wie Uranus oder Neptun (in ihrem Innern herrschen die notwendigen hohen Drücke) oder auch Eismonden in unserem Sonnensystem als möglich, und auch das amorphe Eis, was im interstellaren Medium dominiert, könnte bei den kalten Himmelskörpern eine bedeutende Rolle spielen. Die im irdischen Labor gewonnenen Erkenntnisse der Eigenarten der unterschiedlichen Eismodifikationen tragen so auch zu einem besseren Verständnis des Aufbaus und der Entwicklung der Himmelskörper bei. Die Eigenschaft des mitteldichten Eises, bei Druckverminderung große Energiemengen freizusetzen, könnte etwa in der Eiskruste der Jupitermonde Europa oder Ganymed weitreichende Konsequenzen in Form von dynamischen Ereignissen wie etwa »Eisbeben« haben. Durch die vom Gasriesen Jupiter erzeugten enormen Gezeitenkräfte auf die Monde wären ähnliche Scherkräfte wie beim irdischen Kugelmühlenexperiment möglich, welche die Monde stetig einem ordentlichen »Schüttelfrost« aussetzen.
Doch ob nun kristallin oder chaotisch: Von Weitem betrachtet sehen die Eismodifikationen weitgehend gleich aus, eine Unterscheidung ist mit Teleskopen allein kaum möglich. Doch vielleicht könnte etwas »Saft« die Wissenschaft hier ein großes Stück voranbringen: Am Freitag hat die europäische Raumfahrtagentur Esa ihre Sonde »Juice« ins All geschickt. Der Name steht für Jupiter Icy Moons Explorer, auf Deutsch: Jupiter-Eismond-Erkunder. Sie hat die Erforschung der Jupitermonde Ganymed, Europa und Kallisto zum Ziel. Untersucht werden sollen unter anderem die Dicke der Eiskruste auf Europa und Ganymeds eisige Oberfläche. Der Schwerpunkt der Esa-Mission liegt in der Erkundung von Ganymed – so sollen daher auch der innere Aufbau und das Magnetfeld des größten Jupitermondes erkundet werden. Und mit der für Ende des Jahres 2024 geplanten Nasa-Mission »Europa Clipper« rückt dann der Eismond Europa stärker in den Fokus.
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