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Spaß und Verantwortung: Am Treibholzstrand
Von ausdauernden Großmüttern und magischen Steinen
Das Haus meiner Großmutter liegt zwischen dem Ufer des Lago Maggiore, und einem kleinen Berg, auf dessen Spitze eine winzige Kapelle ist, die Anello di San Quirico. Von der Anhöhe aus, auf der das Haus steht, sieht man sowohl die Bergspitze als auch den See – weder vom Treibholzstrand noch von San Quirico aus sieht man allerdings das Haus meiner Großmutter. Es versteckt sich, meine Großmutter ebenso.
Jeden Tag spaziert sie allein nach unten zum Treibholz und sucht Handschmeichler, das heißt, besonders rund gewaschene Stücke Holz oder Stein, die sie in ihre Manteltaschen steckt und sich in ihren Händen aufwärmen lässt. Wenn sich auf den grau gesprenkelten Steinen eine weiße Steinader von einer Seite zur anderen zieht, einmal rundherum, bringt sie den Stein nach oben, in die Kapelle auf dem Berg, denn es bedeutet, dass sie sich etwas wünschen kann. Sie wünscht sich dann zum Beispiel, dass ihr Enkelkind (ich) keine Fahrradunfälle mehr hat oder dass ihre Tochter einen Mann findet. Sie wünscht sich auch, dass es genug regnet – damit ihr Garten nicht zu trocken wird – und der Lago ebenso. Der Wunsch, der mithilfe der angetriebenen Steine gewünscht (gewunschen sagt sie) wird, hat also, der Logik ihres Aberglaubens nach, wiederum direkten Einfluss auf den See, der den Wunschstein rund gewaschen und ausgespuckt hat. Sie beschwört mithilfe des Treibholzes die Beschaffenheit des Treibholzstandes.
Die Wunschsteine platziert meine Großmutter auf einem kleinen Fenstersims an der Außenfassade der Kapelle, das sie gerade so mit den Fingerspitzen erreicht. Wie genau sie die Steine oben, auf der kleinen Empore, platziert hat, weiß sie, ein Meter 53 hoch, nicht. Jene Steine, die nicht in die Kategorie der Wunschsteine einzuordnen sind, weil keine weiße Ader sich einmal ganz herumzieht, die sie aber dennoch zu schön findet, um sie im Treibholz zurückzulassen, nimmt sie mit in ihr verstecktes Haus. Sie legt sie in Briefe an ihre Enkeltöchter oder an ihre Töchter, denen sie Gesundheit wünscht und Liebe.
Das Treibholz zieht sich in ihren täglichen Spaziergängen also, als Handschmeichler, in ihren Manteltaschen von unten nach oben: vorbei an den Weinbergen, die seit Jahrzehnten schlafen, weil der Wein nie etwas geworden ist, und an den bellenden, blutrünstigen Hunden in Käfigen bis in die Kapelle auf San Quirico oder in ihr braun gekacheltes Palästchen. Dort werden die Handschmeichler dann zu Staubfängern, die sich wiederum in den Kreislauf ihres Tages einfügen. Jeden Morgen, vor dem Spaziergang staubt sie, eine studierte Kunsthistorikerin, die kleinen Objekte ab – sie spaziert mit einem Staubwedel aus Straußenfedern durch ihr Haus und summt dabei ihr Lieblingslied, das eigentlich ein Schlaflied ist: Es wird scho glei dumpa, es wird scho glei Nacht.
Die aktuelle »Lage der Welt« spiegelt sich im Treibholz, das wie eine Art nicht-spiritueller Kaffeesatz funktioniert. Nicht nur Steine, sondern auch rund gewaschenes, buntes Plastik ist unter dem angeschwemmten, ebenfalls rund gewaschenen Holz. Seit dem Plastic Fantastic der 60er Jahre ist das Material immer mal wieder in and out of fashion. Immer weniger, aber immer noch, findet man Verpackungsmaterialien, Puppenköpfe und Miniaturhaarbürsten für blonde Plastikhaare, I’m a Barbie Girl in a Barbie World.
Das braun gekachelte Palästchen, in dem meine Großmutter wohnt, hat der Vater meiner Großmutter entworfen, mein Urgroßvater, der Nonno. Es hat den Charme der 60er Jahre, orangefarbenes Polster, Steinbecken und Kakteen in den halb offenen, ausladenden Innenräumen, flach und breit wie eine Villa in der Wüste. Ich denke an Palm Springs und an die Szene in dem Antonioni-Film »Zabriskie Point«, in dem eine solche elegante Wüstenvilla in die Luft fliegt und alle Staubfänger in Zeitlupe in einer großen Staubwolke aufgehen. Sie drehen und wenden sich anmutig im wirbelnden Schutt, sie sind bunt und glänzend, plastic fantastic. Trotz der ausladenden Terrasse, mit Blick auf den schon immer vergorenen Weinberg, und trotz der farbig angemalten Gartenmöbel fanden Cocktailpartys im Haus meiner Großeltern nur theoretisch statt. Meine Großmutter hatte mit der Instandhaltung des Hauses und Gartens trotzdem genug zu tun: Auf braunen Kacheln sieht man jedes Staubkorn.
Meine Großmutter baut aus ihren Handschmeichlern kleine Skulpturen – auch das angeschwemmte Plastik wird dafür verwendet. Elaborierte Miniaturen – kein Material, ob Kunststoff oder natürlich, steht dabei in der Werthierarchie über dem anderen, die Schönheit der Form steht für sich. Mein Großvater, ein Wissenschaftler, hatte sich nach seiner Pensionierung dem gegenteiligen Projekt gewidmet. Aus Stein wollte er eine gigantische Kugel hauen, eine Art physikalische Sisyphusarbeit. Er hatte den mit dunklen Steinadern durchzogenen, hellen Marmor in viele kleine flache Abschnitte unterteilt, die Gleichungen sind bis heute mit Bleistift auf der geometrisch aufgeteilten (Welt)Kugel notiert. Die Kugel wurde nie rund, sie wurde nie zur Kugel – sein Augenlicht verließ ihn zu früh, grauer oder grüner Star. Seine physikalische Herangehensweise war eine Antithese zur wenig ambitionierten, dafür umso virtuoseren bildhauerischen Praxis meiner Großmutter, die geduldig am Küchentisch mit Sekundenkleber an ihren Miniaturen baute. Er scheiterte am großen Stein und seiner eigenen Hybris, sie meisterte still und mit buchstäblichem Fingerspitzengefühl das Klitzekleine, teeny tiny.
Ladenhüter (aus Plastik) werden also Treibholz, werden Handschmeichler, werden Wunschsteine und Miniaturskulpturen, werden Geschenkartikel in Briefumschlägen, werden Staubfänger – und irgendwann vermutlich wieder Treibholz.
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