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Diether Dehm: Die Passform des Mangels

Mehr Gruppensex wagen: Diether Dehms Werk über »Pornographie und Klassenkampf«

  • Stefan Gärtner
  • Lesedauer: 5 Min.
Sexuelle Freiheit – eine Utopie?
Sexuelle Freiheit – eine Utopie?

Pornografie, also die Abbildung sexueller Vorgänge zum Zwecke sexueller Erregung, dürfte kaum jünger sein als die erste Höhlenzeichnung von menschlicher Hand. Die menschliche Sexualität ist nicht an Brunftzeiten gebunden, sondern ein permanenter Trieb, und Sex, der sich im Kopf abspielt, eigentlich schon Pornografie.

Wer sich, von links, Porno (auch) als Funktion gesellschaftlicher Verhältnisse zu erklären wünscht, wird leicht aufs Metaphernpärchen vom Ficken und Geficktwerden stoßen und also darauf, dass kommerzielle Pornografie die kapitalistisch-patriarchale Gewaltbeziehung sowohl abbildet als auch transzendiert, indem, wer Pornos schaut, über den Ausnahmezustand bestimmt. Pornografie ist eine Hygienemaßnahme gerade da, wo sie gemessen an dem, was man sich im Alltag zu treiben erlaubt, »unsauber« ist; als der Triebabfuhr dienlich stabilisiert sie ebenjenes System, das sich in ihr ausdrückt, als Transgression enthält sie aber ein utopisches Moment.

Dies ist ungefähr das, was einem auf die Schnelle unter dialektisch-materialistischem Vorzeichen zu Pornografie einfallen kann – und ungefähr das, was Diether Dehm, Ex-Musiker, Ex-Songtexter, Ex-MdB und Enfant terrible der Linkspartei, in seinem Buch »Pornographie und Klassenkampf. Für eine materialistische Psychologie« eingefallen ist, allerdings auf über 300 eng bedruckten Seiten, die die Ansicht, beim zuletzt als Corona-Querdenker aufgefallenen Frankfurter handele es sich um einen veritablen Wirrkopf, nicht unbedingt entkräften.

Es ist dies nämlich ein außerordentlich wirres Buch, und nicht mal zuerst, weil sein Autor Orwell mit Huxley und Tribut mit Attribut verwechselt, Adornos »Geliebt wirst du einzig da«-Kalenderspruch falsch zitiert und Sexismus so definiert, dass der vorliege, wenn die Mittelschicht Pornografie für proletarisch hält. Das Buch ist wirr, weil die Sprache wirr ist: Es wimmelt von Stilblüten und fantastisch deplatzierten, bis ins Obszöne reichenden Jovialitäten, die wohl die gewünschte »aktive Sinnlichkeit« markieren sollen (etwa wenn bei der weiblichen Genitalverstümmelung die Klitoris hessisch »abgepetzt« wird), und überhaupt pflegt der Autor eine Art Geheimsprache: »Mit der Projektion nimmt der Mangel wieder Passform an.« / »Dichtung kommt von dicht.« / »Aber bis dahin genießen diese einschnürenden Perversionen offenes oder heimliches Zungenschnalzen.« / »Der Sex der ›Besserverdienenden‹ ist nicht reicher an echter Phantasie, sondern phantasievoller mit echtem Reichtum.« / »Auch viele weitere amouröse Beziehungen zu Brüsten werden mit der Vaterschaft auf eine harte Probe gestellt.« So wie die Geduld aller, die versuchen, den roten Faden zwischen dem »Elend der Metapherntheorie« und der »überschätzten Hormonwirkung« zu sehen, und sich die Mühe machen, unterm Brustton der Marx, Shakespeare und die »Apotheken-Umschau« zitierenden Selbstüberzeugtheit einen Gedanken zu finden, dem, Karl Kraus und dem Prius der Sprache zum Trotz, vielleicht ja nur sein Ausdruck nicht folgen kann: »Ein Glücksmoment, wie das Aufrichten der Brustknospen unter seinen Lippen, ist auch nicht so weit entfernt von dem Glück, die Verweigerung von Lohnzahlung kollektiv durch Streik durchbrochen zu haben.«

Man muss nicht so weit gehen zu sagen, der Autor, promovierter Sonderpädagoge, wisse nicht, wovon er spricht, wenn er, mit Blick auf Schlagworte wie »Pornosucht«, in der therapeutischen Psychologie wie in der Gesellschaftsanalyse auf dem materiellen Substrat besteht (und etwa »die Beziehung der sexuellen Scham zur sozialen« unterstreicht, falls es jene denn noch gibt) und wider das bürgerliche Isolieren des menschlichen Triebhaushalts polemisiert. Mühsam ist aber der breitbeinig akademisierende Tacheles-Ton, der so versessen darauf ist, den Gegner zu stellen, dass er ihn zur Not erfindet, wie es sich schon um eine extrem bürgerliche Therapie handeln muss, die Freuds Über-Ich nur abstrakt benennen will und nicht auch konkret als internalisierte Demütigung durch Chef oder Arbeitsamt.

Dehm, der dialektische Materialist, gehört zu jenem Teil der Linken, der Identitäts- und Genderpolitik samt »Politkorrektheit« nicht nur beargwöhnt, sondern als Elitenprojekt und Verrat an der marxistisch-universalistischen Lehre verachtet. Dialektisch ist »Pornographie und Klassenkampf« durchaus auch im Formalen, insoweit sein bescheidwisserischer Gestus die (im Zusammenhang eher zusammenhanglose) Kritik an Genderpolizei und Corona-Diktatur nicht eben aus der Schmuddelecke holt, aber umgekehrt nachweist, dass diese Kritik, wenigstens in ihrer polemischen Verengung, genau diesen Ton benötigt, der jedes Redigat – und es gab, unglaublich, tatsächlich einen Lektor – für einen Eingriff jener Eliten hält, die nicht verstanden haben und nicht verstehen wollen, dass Sahra Wagenknecht und Donald Trump, bei dessen »Grab ’em by the pussy« es sich nicht um Sexismus, sondern Stammtisch-Pornografie gehandelt habe, die Demokratie verteidigen: »Deren innerster Kern einer rechtsstaatlichen, keynesianischen und kulturellen ›Check & Balance‹« – sic, immer wieder: sic – »bleibt eine handlungsfähige Arbeiterklasse. Sie war, ist und mehrt sich zum weltweit einzig nachhaltigen Antagon des Imperialismus und seiner psychischen Innenarchitekturen«, falls der Antagon nicht gerade wichsend vorm Computer sitzt.

Doch »ein materialistischer Humanismus erahnt in jeder Zuckung eines Menschen die Potenziale einer Gesellschaft«, wobei man vom sprachlichen Gezucke Dehms besser absehen sollte, der, um Entfremdung und Vereinzelung nicht zu forcieren, gleich eingangs »die bewusste Zurückhaltung beim individuellen Porno-Konsum« anmahnt und »gezielten Gruppensex« empfiehlt. Und nämlich nicht den gängig zufälligen.

Dass dem Proletariat Dehms ganze Neigung gilt, ehrt ihn; aber dass er Anlass sieht, die »Werktätigen« weißer Hautfarbe, so wie die »alten weißen Männer« auch, vorm »progressiven Neorassismus« der »Emanzopathen« in Schutz zu nehmen, lässt auf den ernstlichen Glauben schließen, die illegale schwarze Küchenhilfe genieße, übers ja mehr oder minder einmalige »Refugees welcome« hinaus, mehr Rechte und Aufmerksamkeit als der weiße Facharbeiter.

Insgesamt kann das Buch den Verdacht nicht ausräumen, es sei nicht viel mehr als der Lärm, den es produziert – die »Porno-VerbieterInnen« etwa, wo sind die denn? Und dass sprachliche und gedankliche Stringenz zusammengehören, wird negativ noch dann bewiesen, wenn man sogar einmal einverstanden ist: »Ein neuer Anlauf für einen freizügigen Sozialismus muss mit dem Durchbruch zu neuen Genüssen be- und erworben werden.«

Funktioniert sogar andersherum.

Diether Dehm: Pornographie und Klassenkampf. Für eine materialistische Psychologie. Promedia, 312 S., br., 28 €.

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