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Versorgung der Ältesten schlecht gesichert
Geriatrische Krankenhäuser und Reha-Kliniken müssen ihre Kapazitäten in den nächsten Jahren ausbauen
In der Geriatrie oder Altersmedizin werden Patienten versorgt, die älter als 65 Jahre sind und an alterstypischen Erkrankungen leiden. Je höher das Alter, um so mehr der Menschen, die mehrere chronische Krankheiten gleichzeitig haben (also multimorbide sind), benötigen eine spezielle geriatrische Versorgung.
Bis 2030 wird es etwa 50 000 zusätzliche Behandlungsfälle in geriatrischen Kliniken geben, ein Plus von zehn Prozent im Vergleich zu 2019. Das umfasst auch Behandlungen im teilstationären Bereich und in den Rehakliniken. Errechnet wurde dieser Bedarf vom Bundesverband Geriatrie, der seit 2010 ein Weißbuch zur Versorgungssituation in dem Bereich herausgibt. Die vierte Auflage wurde in der letzten Woche in Berlin vorgestellt.
Die Zahl der zusätzlichen Fälle scheint zunächst angesichts von knapp 17 Millionen Behandlungsfällen in Krankenhäusern insgesamt jeweils 2020 und 2021, also in den ersten beiden Pandemiejahren, nicht besonders groß. Aus den erwartbaren zusätzlichen Fällen bis 2030 ergibt sich ein zusätzlicher Bedarf an 1238 Betten in Kliniken für Geriatrie und von 520 Betten in geriatrischen Reha-Einrichtungen. Das ist aus heutiger Sicht ein Problem, da hierzulande noch nicht einmal der aktuelle Bedarf in der Fläche gut abgedeckt ist. Weiße Flecken auf der Versorgungslandkarte zeigen sich so ausgerechnet in einigen neuen Bundesländern, wo es einen überproportionalen Anteil betagter und hochbetagter Menschen in der Bevölkerung gibt.
Der absehbare zusätzliche altersmedizinische Bedarf ergibt sich vor allem durch demografische Effekte. Und das, obwohl die »jüngeren« Alten (65 bis 75 Jahre) gesünder sind als diese Gruppe in den Vorjahren war und weniger häufig in Kliniken versorgt werden müssen. Mehr Menschen erreichen aber jetzt insgesamt das Rentenalter und kommen damit in den Bereich, in dem ein geriatrischer Versorgungsbedarf entstehen kann. Kriterium dafür ist neben dem Alter eine bestimmte Zahl von Nebendiagnosen. Diese Multimorbidität gibt es noch einmal in geriatrietypischer Ausprägung.
Besonders angesichts der anstehenden Krankenhausreform wäre es sinnvoll, wenn der Politik in Bund und Ländern auch in diesem Bereich zuverlässige Zahlen zum Versorgungsbedarf zur Verfügung stehen würden. Aber schon das ist offenbar eine hohe Anforderung, denn wie Michael Musolf vom Bundesverband Geriatrie erläutert, sind etwa die offiziell zugänglichen Daten, die vom Statistischen Bundesamt erhoben werden, nicht deckungsgleich mit jenen, die der Verband erfasst hat. Das liegt laut dem Internisten, der auch als Chefarzt einer Klinik in Hamburg tätig ist, mit daran, dass Geriatrie kein gesetzlich geschützter Begriff ist. Dem Fachverband sind zudem die Kriterien des Bundesamtes für die Zählung nicht bekannt.
Eine weitere Unschärfe bei der Berechnung geriatrischen Bedarfs bringt die sehr unterschiedliche Entwicklung der jeweils stationär aufgenommenen Fälle mit sich. Je älter die Patienten sind, um so häufiger leiden sie eben nicht nur an einem akuten Problem. Zeigt sich zu Beginn »nur« eine Lungenentzündung, so kann es schon nach zwei oder drei Tagen der klinischen Versorgung zu weiteren Symptomen und Komplikationen kommen, auch abhängig von Vorerkrankungen und dem allgemeinen Gesundheitszustand der Senioren.
Indessen sind die Soll-Vorgaben des Bundesverbandes Geriatrie bereits heute nicht überall erfüllt. Eigentlich sollte es 50 geriatriespezifische Betten je 10 000 Einwohner über 60 Jahre geben, außerdem 12 Betten in der geriatrischen Reha. Im Bundesdurchschnitt sind die Vorgaben nicht einmal in der Hälfte der Landkreise, Städte und der Bezirke der Stadtstaaten erreicht. Allein Hamburg überschreitet die Vorgabe bei den Kliniken, allerdings nicht bei den Reha-Einrichtungen. Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachsen unterschreiten sie um 70 Prozent und mehr.
Spezielles Sorgenkind der Geriater sind die fehlenden Reha-Einrichtungen, hier ist der Mangel noch größer als bei den Kliniken. In der Praxis führt das laut Verbands-Vorstandschef Musolf dazu, dass die Patienten zwei bis vier Wochen auf einen Reha-Platz warten müssen, und zwar oft im Krankenhaus, da sie im häuslichen Umfeld noch nicht klar kommen würden.
Hinzu kommt, dass der Bedarf an ärztlichem, therapeutischem und Pflege-Personal ebenfalls steigt, während in diesen Berufsgruppen zunehmend Menschen das Rentenalter erreichen. Die Nachwuchsgewinnung im ärztlichen Bereich ist schwierig, weil es noch keinen etablierten Facharzt für Geriatrie gibt. Das wäre laut Musolf bundesweit nötig. Nur drei regionale Ärztekammern haben diesen Weiterbildungsabschluss bisher fest verankert. Der Standesvertretung, die auch in anderen Bundesländern tätig werden müsste, attestiert Verbandsgeschäftsführer Dirk van den Heuvel eine »gewisse Trägheit« in dieser Frage. Ansonsten wird das Fachgebiet als Zusatzbezeichnung anerkannt, entgegen dem internationalen Standard, der Geriatrie als eigenständiges Fachgebiet definiert. Laut van den Heuvel ist dagegen die Entwicklung in der Pflege erfreulicher. Die zunehmende Akademisierung mache diese Profession insgesamt innovativer und beweglicher.
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