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20. Dokfilmwoche Hamburg: Keine heiligen Kühe
Die 20. Dokumentarfilmwoche Hamburg stellte sich den Problemen der Bildpolitik
Er wolle nicht Opfer zeigen, sondern politische Subjekte, erklärt der Filmemacher Sylvain George. Das dürfte die Absicht der meisten sein, die bei der am Sonntag zu Ende gegangenen 20. Hamburger Dokumentarfilmwoche ihre Werke vorstellten und diskutierten. George begleitet Migranten in Calais oder in Marokko, aber ohne vorgefassten Plan. Die Form ergebe sich von selbst, Bilder drängten sich auf. Dagegen ordnen andere ihre Arbeit weiterhin explizit einem politischen Kampf zu. So etwa Luise Müller mit »Nördlich von Libyen«, dem Porträt eines Paars, das sich für Seenotrettung engagiert. Doch auch bei ihr werden Opfer zu Subjekten, ja sie erteilt ihnen Autorenrecht, indem sie die entsetzlichen Vorgänge auf Moria aus Handyfilmen von dort Gestrandeten montiert.
Wer neue Bilder setzen will, muss sich erst gegen alte durchsetzen – diese Überzeugung treibt die Kongolesin Bernadette Vivuya, die in »Stop Filming Us But Listen« (mit dem ruandischen Filmemacher Kagoma Ya Twahirwa) die Propaganda der Kolonialisten dekonstruiert und zugleich einen anderen Blick einfordert. Doch die alten Mächte reproduzieren sich unentwegt. Travis Wilkerson, der mit seiner Frau Erin die Geschichte des Kolonialismus erkundet, bringt das auf die Formel »Aus Kanons werden Kanonen«. Unsere imperialen Erzählungen, Formen, Künste bestimmen, wie wir die Ausgeschlossenen, Überfallenen und Ausgepressten sehen sollen. Wilkerson belegte seine These in Hamburg anhand einer verblüffenden Gegenüberstellung von Stanley Kubricks »Full Metal Jacket« (1987) mit Hai Ninhs Meisterwerk »Em Bé Hà-Nôi« (Das Mädchen aus Hanoi; 1974). Er verriet auch, wie er auf das Thema kam: Als Soldat versprühte sein Vater in Vietnam das Gift Agent Orange, ein Einsatz, an dessen Spätfolgen er sterben sollte.
Ausgangspunkt seiner Filme ist für Wilkerson die eigene Geschichte, doch will er nicht bei ihr stehenbleiben. Das ist auch der Ansatz von Ariane Andereggens und Ted Gaiers »Klassenverhältnisse am Bodensee«, einer Art »Rückkehr nach Reims«, das hier Ermatingen heißt. In gertrudesteiniger Sprache erzählt Andereggen von ihrer proletarischen, teils migrantischen Familie, zeigt die Existenzbedingungen derer, die für die Dosenfabrik Louis Sauter und andere Betriebe schufteten. Der Film ist ebenso erhellend wie komisch, bleibt aber der Biografie samt ihren Blessuren verhaftet.
Es gibt auch eine radikal andere Perspektive auf Ausbeutung – nicht vom Eigenen, nicht von den Subjekten, nicht einmal vom Menschlichen, sondern von der Natur her: »Tara« von Francesca Bertin und Volker Sattel handelt zwar vom größten Stahlwerk Europas im italienischen Taranto, doch auch stets indirekt, in berauschenden Bildern von dem Flüsschen Tara, das von der Fabrik vergiftet wird. Der Fluss wird vielgestaltig wie die verdreckte Themse in T.S. Eliots »Waste Land«. Ähnlich geht Max Sänger in »Kayu Besi« (Eisenholz) den papuanischen Regenwald an. Sänger lebte mit Arbeitern, die, im Auftrag von Holzhändlern, Baumriesen fällen; sie sägen am Ast, auf dem sie sitzen, denn sie zerstören, wie zuvor schon auf Sumatra, ihre Lebensgrundlage. Es ist eine Tragödie – aber was für ein prächtiges Bühnenbild sie hat!
Auch in Sönje Storms »Die toten Vögel sind oben« geht es um die Zerstörung von Lebensgrundlagen, hier am Beispiel des Archivs von Jürgen Mahrt, ihres Urgroßvaters, der vor hundert Jahren geradezu fanatisch Tiere fotografierte, von denen über die Hälfte inzwischen ausgestorben sind. Er stopfte Vögel aus, stellte sie in die Landschaft, fotografierte sie und kolorierte die Abzüge. Die Fotografie gerät, anders als bei Roland Barthes, nicht zum Relikt der Toten, sondern zum verzweifelten Versuch einer Verlebendigung. Dass das in Mahrts Fall auch ein Versuch war, mit den grausigen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs fertig zu werden, darf vermutet werden.
»Großes Kino kommt aus der Ferne«, erklärte Sylvain George, es kommt von außen. Aber das Außen muss nicht die erste, es kann auch die zweite Natur und in ihr eine Institution sein, wie Constantin Wulff mit »Für die Vielen« bewies. Nüchtern und elegant wie der große Institutionenfilmer Frederick Wiseman schildert Wulff die Tätigkeit der Arbeiterkammer (AK), an die sich in Österreich wenden kann, wer Ärger mit seinem Boss hat. Weil sie von neoliberaler Seite angefeindet wird, glaubt sie, mit dem Werbeclip »100 Jahre Gerechtigkeit« ein stolzes Image präsentieren zu müssen: Heldinnen kämpfen gegen eine Roboterarmee. Der Clip wirkt wie eine unfreiwillige Persiflage auf Marvel-Comics. »Gefollt ma irrsinnig«, begeistert sich die Leiterin der AK über ihn. Das war der komische Höhepunkt eines Festivals, das sich häufig mit Bildpolitik beschäftigte, aber kaum mit einer so bizarren.
Weder über Opfer noch über Subjekte, noch über Natur, noch über eine Institution nähert sich Anabela Angelovska ihrem Thema in »Retreat«: Sie zeigt Villen, die aussehen wie geschrumpfte Märchenschlösser. Gebaut haben sie einige der weit über 10 000 Menschen aus Mazedonien, die die USA für ihre Kriege im Irak und in Afghanistan als Köchinnen oder Fahrer einstellten. Dort verdienten sie zehn- bis zwanzigmal mehr als daheim, und als sie schwer traumatisiert zurückkehrten, errichteten sie sich ihre Kindheitsträume. Kaum jemand will darüber sprechen, doch sprechen die Gebäude für sich.
Mit im Tschetschenienkrieg traumatisierten russischen Soldaten konfrontiert »Weiße Raben« (2005) von Tamara Trampe (1942–2021). Bei einer Podiumsdiskussion erklärte der unter anderem für Deutschlandfunk tätige Journalist Matthias Dell, mit »Weiße Raben« sei der 24. Februar 2022 vorweggenommen worden. Damit hielt die »Zeitenwende« Einzug auch auf diesem Festival; wir hätten sie sonst sehr vermisst.
Wenige Beiträge blieben unpolitisch. Mit leichter Hand fächert Benjamin Hassmann in »Within Sights« Impressionen aus Venedig auf, während Jan Peters seine Funde massiv bearbeitet und betextet (»Eigentlich eigentlich Januar«). Geschickt nützt Peters die Zerfallsprozesse von belichtetem Material aus. Salka Tiziana greift in „Todos los sonidos entran adentro“ (etwa: Alle Geräusche dringen ins Innere) den uralten Mythos vom Dichter als Schafhirt auf. Doch bei ihr dichtet eine Hirtin, und die Schafe werden am dröhnenden Madrid vorbeigetrieben.
Das Festival gab die Möglichkeit, den Werken dreier überragender Dokumentaristen – Rainer Komers, Peter Nestler, Klaus Wildenhahn – zu begegnen; Komers und Nestler zeigten einige ihrer wegweisenden Filme über Sinti und Roma. Doch die am meisten überraschende Entdeckung kam aus dem westdeutschen Fernsehen der Siebziger und Achtziger: Eine Ausstellung, deren hochinteressante Materialien auch im Netz (unter die-fuenfte-wand.de) abzurufen sind, bereitete die Arbeit von Navina Sundaram auf. Die im letzten Jahr verstorbene Fernsehjournalistin, die sich selbst ein »Kind Nehrus« nannte, stammte aus Indien, konnte schneidend den Paragraphen 218 oder das unheilvolle Wirken der Weltbank kommentieren. Doch wie Sundaram lachend berichtete, wollten die Deutschen von ihr immer nur wissen, warum die Kühe in Indien heilig sind.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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