- Politik
- Franquismus
Weder Kirche noch Vaterland: Dissidentinnen gegen die Moral
Im Franquismus wurden Frauen, die sich den herrschenden Moralvorstellungen widersetzten, in Besserungsanstalten eingewiesen.
Der Raum im Ausstellungszentrum Centre del Born in Barcelona ist abgedunkelt, auf einem kleinen Tisch liegen sechs Kopfhörer. Ihm gegenüber: eine Leinwand mit Aufnahmen von feministischen Demonstrationen aus den späten 1970er Jahren. Spanierinnen recken kämpferisch die Faust nach oben, halten Plakate für das Recht auf Abtreibung in die Kamera, küssen sich. Wer die Kopfhörer aufsetzt, hört die Geschichten von sechs Frauen, die ihre Jugendjahre in den Besserungsanstalten des »Patronato para la protección de la mujer« (»Patronat zum Schutz der Frauen«) verbrachten. Die Anstalten unterstanden dem Justizministerium der Franco-Diktatur und sollten »gefallene Mädchen und junge Frauen« auf den Pfad der franquistischen Moral zurückbringen. Eine Frau erzählt, wie sie wegen einer unehelichen Schwangerschaft eingewiesen wurde; eine andere, wie sie dort mit Medikamenten stillgestellt wurde, wenn sie aufbegehrte. Geleitet wurden die spanischen Heime von sieben katholischen Frauenorden, zwischen 1941 bis 1983 waren dort vermutlich Tausende Mädchen und junge Frauen untergebracht. Genaue Zahlen gibt es nicht. Viele der Besucherinnen und Besucher verlassen erschüttert und kopfschüttelnd den Raum. Was im Patronato geschah, ist in Spanien so gut wie unbekannt. Dabei zeigte sich in der Einrichtung die Moral der Diktatur in ihrer ganzen Härte.
Nach seinem Sieg im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) errichtete General Francisco Franco seinen Staat auf den Prinzipien des »National-Katholizismus«. In ihm verschmolzen die rigiden Moralvorstellungen der katholischen Kirche und ein faschistisches Staatsverständnis zu einem Amalgam, das alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang. Von Francos »biopolitischem Machtapparat« sprechen Amanda Cuesta und Nora Ancarola, die Kuratorinnen der Ausstellung »Un altre fi. La Resta« (»Ein anderes Ende. Der Rest«). Schul- und Gesundheitswesen unterstanden größtenteils kirchlichen Einrichtungen. Rechtlich wurden Frauen wie Minderjährige behandelt: Ohne Zustimmung ihres Ehemannes oder Vaters konnten Spanierinnen bis in die 1970er Jahre weder ein Konto eröffnen noch den Führerschein machen. Auch für Reisen ins Ausland oder eine Erwerbsarbeit war eine schriftliche Genehmigung des Mannes notwendig. »Die einzig legitime Funktion von Frauen im National-Katholizismus war, Kinder zu gebären und zu gehorsamen Dienern des Vaterlands zu erziehen«, sagt Ancarola. »Ohne diese Struktur und letztlich auch ohne Institutionen wie das Patronato hätte das Regime nicht mehr als vier Jahrzehnte überdauern können.«
Mithilfe von Consuelo García del Cid haben die beiden die vergessene Geschichte des Patronato rekonstruiert – als Beispiel für die strukturelle Gewalt, die Frauen unter dem Regime erlitten. García del Cid, die selbst einige Jahre in einer Besserungsanstalt verbrachte, erzählt von Tugendwächterinnen, die systematisch auf Volksfesten, in Bars, am Strand, nach Mädchen oder jungen Frauen Ausschau hielten, die zu kurze Röcke trugen, offensiv flirteten, rauchten oder Alkohol tranken oder die Schule schwänzten. Egal, ob Priester, Klassenlehrer oder Familienangehöriger: Verstöße junger Frauen zwischen 16 und 21 Jahren gegen die »öffentliche Moral« konnten von jedem angezeigt werden.
Tugendwächterinnen hielten Ausschau
Die Einweisungsbescheide, die sie veröffentlicht hat, zeigen die ganze Bandbreite möglicher Gründe: Da gibt es eine Ana-Maria, die eingewiesen wurde, weil sie mit den Statisten des Kinostars Marisol gefeiert hatte, eine Mercedes, die ihrer Mutter nicht gehorchte oder eine Aurelia, 17 Jahre alt, die »Jungs und Kino« mochte. Besonders alarmiert waren die Behörden, wenn der Verdacht auf lesbische Beziehungen oder Prostitution bestand. Oft waren es die Eltern selbst, die sich an das Patronato wandten – weil sie mit ihren Töchtern überfordert waren oder das Geld nicht reichte, vor allem auf dem Land. In den 1950er Jahren galten 60 Prozent der spanischen Bevölkerung als arm, 17 Prozent der erwachsenen Männer und Frauen konnten weder lesen noch schreiben.
Besonders hart traf es Frauen, die unverheiratet schwanger geworden waren. Sie wurden nach Madrid, in die Entbindungsanstalt »Nuestra Señora de la Almudena de Peña Grande« überwiesen. Körperliche Züchtigung, körperliche Schwerstarbeit auch für Hochschwangere und Mangelernährung: Bei einem Routinebesuch 1968 schienen die Zustände selbst zwei Beamtinnen des Patronato untragbar. Sie empfahlen die Schließung. Ihr Bericht verschwand in der Schublade. Das Heim wurde erst 1983, fünf Jahre nach Verabschiedung der demokratischen Verfassung Spaniens, geschlossen – nach Protesten ehemaliger Insassinnen.
Mit der »Nuestra Señora de la Almudena de Peña Grande« verbindet sich auch ein Skandal, der international für Aufsehen sorgte. In der Entbindungsanstalt wurden Frauen von den Ordensschwestern nicht nur massiv dazu gedrängt, ihre Kinder nach der Geburt in Adoption zu geben. In mehreren Fällen sollen die Säuglinge geraubt und an wohlhabende kinderlose Familien verkauft worden sein. Den Gebärenden täuschte man einen plötzlichen Kindstod vor – mit einer im Kühlfach aufbewahrten Babyleiche. Der Fall hat auch die spanischen Gerichte beschäftigt. Eduardo Varelo, Mitglied des Patronato und einer der zuständigen Ärzte der Klinik, wurde 2018 in drei Fällen zwar für schuldig befunden, aber nicht verurteilt. Die Straftat war nach spanischem Recht verjährt. Dabei ist die Tragweite des Skandals enorm. Bis zu 30 000 Babys könnten laut einer Schätzung des ehemaligen Richters Baltasar Garzón ihren Müttern entrissen worden sein, nicht nur in Heimen, die dem Patronato unterstanden, sondern auch in den Gefängnissen, in denen im Nachkriegsspanien Republikanerinnen und Kommunistinnen inhaftiert worden waren.
Der Fall der »geraubten Babys« zeigt exemplarisch, welche Fallstricke in der spanischen Erinnerungspolitik lauern. Einen Bruch mit der Diktatur hat das Land nach Francos Tod nicht vollzogen. Schrittweise wandelte es sich zwischen 1975 und 1979 zur parlamentarischen Monarchie, unter der Schirmherrschaft des Staatsoberhauptes, das der Diktator noch zu Lebzeiten eingesetzt hat: dem ehemaligen König Juan Carlos. Mit den Amnestiegesetzen von 1977 setzte man einen juristischen Schlussstrich unter die Diktatur: Der Straferlass für alle politischen Delikte aus Bürgerkrieg und Diktatur war ursprünglich eine Forderung der Opposition der Franco-Diktatur gewesen, verhinderte letztlich aber auch, dass die Schergen des Regimes für Folter und Repression zur Verantwortung gezogen werden konnten. Finanzielle Entschädigungen gab es in den folgenden Jahrzehnten nur für Menschen, die in franquistischen Gefängnissen saßen, Angehörige von zum Tode Verurteilten oder Exilierte; nicht aber für Menschen, die auf andere Weise die Repression des Regimes erfahren hatten.
Keine juristische Aufarbeitung in Sicht
An diesem Kernproblem ändert auch das Gesetz zur »demokratischen Erinnerung« nichts, das die spanische Linkskoalition im Herbst vergangenen Jahres durch Parlament und Senat gebracht hat. Es sieht zwar Strafen wegen Verherrlichung der Diktatur vor, stellt Gelder für die Exhumierung von Toten aus dem Bürgerkrieg zur Verfügung und beinhaltet eine symbolische Entschädigung für alle Opfer der Diktatur, die aus weltanschaulichen Gründen oder wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden. Aber eine juristische Aufarbeitung der Geschehnisse in den Heimen des Patronato para la Protección de la Mujer scheint so gut wie unmöglich.
Das wissen auch die Ausstellungsmacherinnen Nora Ancarola und Amanda Cuesta. Viele Dokumente aus den Heimen sind verschwunden oder wurden vernichtet, andere befinden sich noch immer in Obhut der religiösen Orden und sind nicht zugänglich. Aus Scham wollen viele ehemalige Heimbewohnerinnen nicht über diesen Teil ihrer Geschichte sprechen. Eine offizielle Interessenvertretung konnte bis heute nicht entstehen. Die Ordensschwestern wachten darüber, dass sich keine intensiven persönlichen Bindungen zwischen den jungen Frauen bilden konnten. Fast immer wurden sie ohne Vorwarnung von einem Heim ins andere verlegt oder entlassen. Der Kontakt zwischen den Frauen verlor sich so schnell. Cuesta sieht darin auch strukturelle Gewalt. »Die wenigen erinnerungspolitischen Maßnahmen in Spanien beschränken sich in erster Linie auf die Massengräber aus dem Bürgerkrieg und die politische Dissidenz. Aber diese Frauen hat man einfach unsichtbar gemacht. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ihre Geschichte jetzt selbst zu schreiben.«
Dass die kleine Audiothek Bestandteil einer Ausstellung über den Widerstand gegen die Diktatur werden musste, war beiden Kuratorinnen von Anfang an klar. »Diese Frauen haben mit ihrem Verhalten, mit ihrem Körper gegen das Franco-Regime aufbegehrt«, ist Ancarola überzeugt. Das mache sie zu Dissidentinnen, ebenso wie die – meist männlichen – Gewerkschafter oder Mitglieder linker Parteien, die für ihre Opposition mit Gefängnis oder Exil bestraft worden waren.
Begleitend zur Ausstellung haben Ancarola und Cuesta eine Podiumsdiskussion mit Heimbewohnerinnen organisiert. Immer wieder erhalten sie seitdem Anrufe und E-Mails: Historikerinnen, Journalistinnen und Psychologinnen haben sich zu einem Unterstützerkreis zusammengeschlossen, um gemeinsam zu überlegen, wie sie dem Thema mehr Aufmerksamkeit verschaffen können. »Dass die Ausstellung auf diese Weise Früchte trägt, ist das Beste, was ihr passieren konnte«, sagt Ancarola.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.