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Wissenschaftsrat: Transformation des Lebensmittelsektors nötig
Das Beratungsgremium liefert eine kritische Bestandsaufnahme der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft und der damit verbundenen Forschungsbereiche
Landwirtschaft und Ernährungsbranche sind ökonomische Geschwister: Die einen bauen an, was die anderen zu Lebensmitteln verarbeiten. Wie es mit dem forscherischen Vorlauf auf beiden Feldern bestellt ist, hat sich der Wissenschaftsrat näher angeschaut und jetzt ein Positionspapier zu den »Perspektiven der Agrar- und Ernährungswissenschaften« in Deutschland vorgelegt, das es in sich hat.
Das Votum des wichtigsten Gremiums zur Beratung der Wissenschaftspolitik in Deutschland gliedert sich in zwei Teile. Einer erstaunlich kritischen Bestandsaufnahme des ökologischen und medizinischen »Sündenregisters« der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft folgen die Formulierung eines positiven »Zielbildes«, welcher zukünftige Zustand angestrebt werden sollte, und die zentralen Umsetzungsschritte im Forschungssystem.
Bei der Bestandsaufnahme nehmen die Experten kein Blatt vor den Mund. Trotz der enormen und stetig gestiegenen Leistungen der Agrar- und Ernährungssysteme sei ein Zustand erreicht, in dem rund ein Zehntel der Weltbevölkerung unter chronischem Hunger leide und deutlich mehr als ein Drittel sich keine gesunde Ernährung leisten könne. Die Ernährungssituation werde sich angesichts der wachsenden Weltbevölkerung voraussichtlich weiter verschärfen.
Die Art und Weise der Lebensmittelproduktion schädige zudem massiv die Umwelt und sei verantwortlich für rund ein Fünftel der Übernutzung des Grundwassers, für ein Drittel der Bodendegradation sowie für die Hälfte des Biodiversitätsverlustes. Die Gewinnung neuer landwirtschaftlicher Nutzflächen ist für rund 90 Prozent der globalen Entwaldung verantwortlich. Zudem verbrauche das Agrar- und Ernährungssystem derzeit rund ein Drittel der weltweit erzeugten Energie und produziere dadurch ebenfalls rund ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen. Allein die sozialen Kosten der globalen Treibhausgasemissionen beliefen sich laut aktuellen Prognosen bis zum Jahr 2030 auf jährlich über 1,7 Billionen US-Dollar.
Ernährung als Gesundheitsrisiko
Hinzu kommen die medizinischen Folgen. Allein in Deutschland wird rund ein Drittel aller Kosten im Gesundheitssystem durch Krankheiten verursacht, die direkt oder indirekt auf ernährungsbedingte Faktoren zurückgehen. Im Jahr 2017 seien ernährungsbedingte Risiken für schätzungsweise rund 22 Prozent der weltweiten Todesfälle von Erwachsenen verantwortlich gewesen, zitiert der Wissenschaftsrat aus internationalen Untersuchungen. In Deutschland wurden im Jahr 2019 etwa 14 Prozent aller Todesfälle mit einer ungesunden Ernährung in Verbindung gebracht.
Die Konsequenz aus dieser dramatischen Bestandsaufnahme liegt auf der Hand: »Eine Transformation der in vielerlei Hinsicht dysfunktionalen Agrar- und Ernährungssysteme ist daher unbedingt notwendig und dringlich«, mahnt der Wissenschaftsrat.
Die Neuorientierung der Agrar- und Ernährungswissenschaften sieht das Gremium als langfristige Aufgabe. Verbunden seien damit nicht nur »strukturelle und prozessuale Veränderungen« in den 115 agrar- und ernährungswissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland. Auch benachbarte Fachgebiete seien betroffen, wie die Gesellschaft insgesamt, weshalb der Maßnahmenteil auch Empfehlungen zum Technologietransfer und zur Wissenschaftskommunikation enthält.
Austausch mit der Gesellschaft
Vier große Veränderungskomplexe sehen die Experten auf die Agrar- und Ernährungswissenschaften zukommen. Das sind zum einen verstärkte »Integrationsanstrengungen« in den Einzeldisziplinen, die von der Forschung über Lehre, Transfer bis zu Dateninfrastrukturen und Digitalisierung reichen, damit Informationen und Wissen über Disziplingrenzen hinweg zusammengeführt und vermittelt werden können. Weiter geht es um neue Partizipationsmöglichkeiten, die es den Wissenschaftlern ermöglichen, sich frühzeitig und konsequent über Forschungsbedarfe mit Partnern aus anderen gesellschaftlichen Bereichen auszutauschen und »gemeinsam Lösungsoptionen und Transformationspfade zu erarbeiten und sich über Zielkonflikte und Synergien verständigen zu können«.
Ein wichtiges wissenschaftsinternes Aktionsfeld ist eine neue Justierung von »Reputation und Anerkennung«, die bisher über die Forschung stattfindet. Diese Wertschätzung, die sich auch auf Karrieremöglichkeiten auswirkt, sollte den Wissenschaftlern aber künftig auch »für die herausfordernden, ressourcenintensiven und gesellschaftlich dringend erforderlichen transformativen Leistungen innerhalb und außerhalb des akademischen Systems« entgegengebracht werden. Nicht zuletzt gelte es, so die Empfehlung des Wissenschaftsrates, den Agrar- und Ernährungswissenschaften »Sichtbarkeit und Stimme im nationalen, europäischen und globalen Kontext zu verleihen«. Dies mit dem Ziel, nicht nur »die politische Seite fundiert beraten« zu können, sondern auch »die Öffentlichkeit für die Transformationsanstrengungen zu gewinnen und international mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den Austausch treten zu können«.
Neues Beratungsgremium gefordert
Zur besseren Beratung der Politik kann es unter Umständen zur Gründung neuer Einrichtungen kommen. »Es fehlt ein Beratungsgremium auf nationaler Ebene, das die systemischen Zusammenhänge überblickt, neue Forschungen (auch unter Einbeziehung außerwissenschaftlicher Akteursgruppen) anstößt und kurz-, mittel- beziehungsweise langfristige Ziele sowie entsprechende Transformationspfade für die Politik ressort- und länderübergreifend entwickelt«, heißt es im Papier des Rates.
Das Reformkonzept des Wissenschaftsrates ist gut durchdacht, will in dieser Form aber zunächst nur ein Präludium sein. Ein umfassender Empfehlungsreport ist für das Jahr 2024 geplant.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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