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Wer wird die Kinder begraben?
Ewgeniy Kasakow stellt die russischen Antikriegslinken vor
Ein Jahr nach dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine ist aus dem Konflikt ein Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland mit täglich wachsendem Eskalationspotenzial geworden. Auf beiden Seiten ist die Zahl der Opfer immens, nur die Toten auf der russischen Seite werden hierzulande kaum beachtet, wie auch über die russische Antikriegsbewegung wenig bekannt ist. Es wird vielmehr der Eindruck erweckt, es gäbe jenseits von Alexej Nawalny keine Opposition in Russland. Da ist es umso erfreulicher, dass der in Bremen lebende Historiker und Autor dieser Zeitung, Ewgeniy Kasakow, nun ein Buch veröffentlicht hat, das sehr akribisch die unterschiedlichen Fraktionen der russischen Linken untersucht, die den Krieg gegen die Ukraine ablehnen.
Kasakow stellt die verschiedenen politischen Gruppen der kriegsgegnerischen russischen Linken vor und gibt auch einen kurzen Überblick über deren Zerklüftungen und Spaltungen. Im ersten Kapitel widmet er sich der Sozialdemokratie, dem Linkssozialismus und den Gewerkschaften. Das zweite Kapitel ist den Kriegsgegner*innen der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation gewidmet. In der Folge debattiert der Autor die Phänomene des »Linksstalinismus« und des Trotzkismus, um sodann auf Anarchisten, Anarchosyndikalisten und Autonome näher einzugehen. Zum besseren Verständnis der Ansichten und Ansprüche der heutigen Linken in Russland bietet Kasakow zudem dankenswerterweise einen kurzen Einblick in die Geschichte der antiautoritären Bewegung nach dem Ende der Sowjetunion.
Erfreulicherweise ist hier auch der feministische Widerstand gegen den Krieg nicht vergessen, der allerdings nur bedingt links verortet werden kann. Die von Kasakow interviewte Soziologin Masrija Wjatschinko betont explizit, dass sie sich keineswegs als Linke versteht. Sie bezeichnet sich als dekoloniale Feministin. Für sie war auch die Sowjetunion eine Kolonialmacht, deren Nachwirkungen sie noch in der Gegenwart registriert. Dass sich die Bolschewiki gegen großrussischen Chauvinismus wandten und nach der Gründung der Sowjetunion Programme für die Angleichung der Lebensbedingungen im ganzen Land initiiert hatten, von denen gerade die im Zarismus ausgebeuteten Regionen profitierten, stuft sie als reine Propaganda ein. Mit ihrer sehr prowestlichen Position ist Masrija Wjatschinko selbst im feministischen Lager durchaus umstritten. Das offenbart das ebenfalls hier veröffentlichte Interview, das Kasakow mit der sozialistischen Feministin Alla Mitrofanowa führte. Sie erinnert daran, dass sich die Menschen nach der Oktoberrevolution von 1917 »massenhaft« in das politische Leben eingeschaltet haben, sei es in den Sowjets, den Schenotdels (Frauenabteilungen) oder künstlerisch über den sogenannten Proletkult.
Alla Mitrofanowa bezieht sich positiv auf Rosa Luxemburg, grenzt sich aber klar von der KP Russlands ab. Diese größte russische Oppositionspartei wird in Deutschland als tatkräftige Unterstützerin der großrussischen Politik des Putin-Regimes dargestellt. Kasakow jedoch zeigt, dass es in der Partei zahlreiche Mitglieder gibt, die den russischen Einmarsch in die Ukraine klar verurteilen und deshalb ebenso wie andere Kriegsgegner*innen in Russland Repressalien erleiden. Auch die sozialkonservative Parteiführung übe auf jene Druck aus und versuche sie auszugrenzen.
Die Kriegsgegner*innen in der KP gehören vor allem der jüngeren Generation an und würden eine zu starke Basis bilden, um einfach ausgeschlossen werden zu können. Kasakow berichtet zudem, dass sich die Politiker*innen der KP Russlands für die Anerkennung der Donezk-Republiken als Teil Russlands ausgesprochen hätten, um eben gerade den Krieg zu vermeiden, der dann am 24. Februar 2022 ausgebrochen ist. Sie würden wie nicht wenige russische Kriegsgegner*innen die Postion vertreten, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in der Ostukraine bei einer demokratischen Abstimmung auch für ihre Zugehörigkeit zu Russland votieren würde. Den Angriff auf die Ukraine lehnen auch sie entschieden als nationalistische Politik ab.
Trotz aller Differenziertheit unter linken Kriegsgegner*innen in Russland verbinde diese, so Kasakow, dass sie alle gleichermaßen von massiven Repressionen betroffen sind. Bereits in den ersten Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine seien fast 14 000 Kriegsgegner*innen in Russland zumindest kurzzeitig festgenommen worden. Die meisten von ihnen hatten ein sofortiges Ende des Blutvergießens gefordert.
Wenige Stunden nach Beginn der Invasion hatte die libertäre Moskauer Gruppe »Food not Bombs« in einem Aufruf gefragt: »Wer wird die Eingeweide einsammeln, wem werden Arme und Beine durch Explosionen abgerissen, wessen Familien werden ihre Kinder begraben? Selbstverständlich betrifft dies alles nicht die herrschende Minderheit.« Ein Jahr danach haben diese Fragen nicht an Brisanz verloren, im Gegenteil, an Eindringlichkeit gewonnen.
Ewgeniy Kasakow: Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg. Unrast-Verlag, 244 S., br., 16 €.
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