Narrative Kränkung

Über das Narrativ wird viel geschrieben, doch wenig ausgesagt

  • Ioannis Dimopulos
  • Lesedauer: 6 Min.
Natürlich sind immer nur die anderen narrativ, nie man selbst.
Natürlich sind immer nur die anderen narrativ, nie man selbst.

Sucht man auf den Internetseiten großer deutscher Medien nach dem Wort »Narrativ«, so finden sich allein in diesem Frühjahr mehrere Dutzend Artikel, die mit diesem Begriff etwas zu bezeichnen vorgeben. Interessant ist, dass das Narrativ in beinahe jeden Kontext zu passen scheint. Berichterstattungen über den Krieg in der Ukraine, Rezensionen von Kunst und kontroverse Feuilletondebatten lassen sich über diesen Begriff vereinen. Wer darin nun eine universale Methode zur Deutung der Welt vermutet, liegt falsch. Tatsächlich gründet sich die Prominenz des Begriffs nicht in seiner epistemischen Gewalt, sondern in seiner semantischen Leere.

Gleichwohl gibt es eine schwammige Vorstellung vom gegenseitigen Erzählen als anthropologische Konstante, wie sie im vergangenen Jahr etwa der Germanist Fritz Breithaupt in seinem Buch »Das narrativen Gehirn« entworfen hat. Überhaupt scheint heute alles zum »Narrativ« geworden zu sein. Putin rechtfertige seine Außenpolitik, durch eine völkische Erzählung, ist zu lesen. Verteidigen Konservative die Polizei gegen Gewaltvorwürfe, erzählen sie die Geschichte vom Freund und Helfer. Und auch in den emotional geführten Debatten des Feminismus ist die Rede vom Narrativ der Identitäts- und Geschlechterkonstruktionen, die für die einen natürliche Bedingung, für die anderen performative Rollen sind.

Narrative sind so etwas wie Geschichten, die man sich über etwas erzählt. Alles, was passiert, wird von einer Erzählung begleitet, die wahrheitsfähige Aussagen sinnhaft stützen oder stürzen soll. Narrative sollen also Wissen und damit Praxis begründen. Im Gegensatz zum abstrakten Faktum sind sie sinnstiftend und notwendig zur Kommunikation von Wissen.

Die gerne behauptete Differenz zwischen Fakt und Fiktion, die man bis zu Platons Staatstheorie zurückverfolgen kann, ist jedoch gar nicht so einfach zu erklären. Wenn die Wissenschaften den Anspruch haben, etwas Wahres zu sagen, dann müssen sie ihr Vorgehen legitimieren. Dies passiert durch Metadiskurse, die klären, wie das Gesagte sich zu den Objekten verhält, auf die es sich bezieht. Da aber kein System von Wissen sich selbst erklären kann, bedarf es einer außerhalb des Selbstbezugs liegenden Einordnung.

Jean-François Lyotard hat schon auf dieses Problem hingewiesen. In seinem berühmten Werk »Das postmoderne Wissen« konstatiert er, dass im 20. Jahrhundert die »Krise der Erzählungen« zu einer Instabilität der Wissenssysteme geführt habe. Hierbei hat er keine Romane im Sinn, sondern die Legitimationserklärung des Denkens, die nach seiner Auffassung stets Auskunft über ihre Sinnhaftigkeit gegeben hat. Die »Großen Erzählungen« von Aufklärung und Fortschritt, mit denen sich Wissen historisch legitimierte, haben für Lyotard ihre Glaubwürdigkeit verloren. Und tatsächlich gibt ihm die Klimakatastrophe recht, wenn er davon ausgeht, dass die Gewissheit von Fortschritt instabil geworden ist.

Das wissenschaftliche Selbstverständnis wurde dadurch nachhaltig gekränkt. Denn das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit offenbart, dass Fakt und Fiktion, Wissen und Erzählen keine strengen Gegensätze sind. Die Auflösung der großen Narrative zwingt uns, die Legitimierung von Wissen kritisch zu hinterfragen, und lässt keine großen Erzählungen mehr zu. Darin liegt auch das emanzipatorische Potenzial dieser Kritik. Wenn keine Erzählung die Identität von Welt und Sinn mehr herstellen kann, dann ist die Welt als irrational entlarvt.

Zwischen der Einrichtung der Welt und der Vernunft klafft also eine Wunde. Man blickt dadurch in den Abgrund der Kontingenz. Die Sinnhaftigkeit der Welt ist radikal infrage gestellt. Der positive Nebeneffekt: Wissen könnte durch eine neue Metaerzählung legitimiert werden, die mit der Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit reflexiv umgeht.

Identitäten, zumindest wie sie populär verstanden werden, entspringen dieser semantischen Lücke. Sie sind Narrationen des Selbst und behaupten, dass Selbstanspruch und Wirklichkeit deckungsgleich seien. Das, wovon ich glaube, dass ich es bin, bin ich auch. Und ich bin nichts anderes als das, was meine Selbsterzählung aus mir macht.

Dies klingt auf den ersten Blick nach Emanzipation. Und so ist es auch, insoweit diese Erzählung des Selbst Fremdzuschreibungen, seien sie rassistischer oder patriarchaler Art, unterminieren. Identität lässt sich also individualistisch aufbauen und vertreten. Das Problem dabei: Die Selbsterzählung des Ichs, das sich in einer kontingenten Welt irgendwie behaupten muss, macht die Einrichtung der Welt sinnvoll. Es reicht dann, sich darin einzuordnen.

Übrig bleibt die Konkurrenz verschiedener Selbsterzählungen, die dadurch sinnvoll sein sollen, dass sie selbst gewählt sind. Häufig ist die spezifische Ausrichtung der Selbsterzählung auch egal. Ob ich mir selbst und anderen erzählen mag, dass ich Richard Wagner höre und Pinot noir trinke oder aber Punk und Dosenbier bevorzuge, nimmt sich nicht viel. Identität ist an den Konsum von Waren gebunden, letztlich an die Konsumier- und Austauschbarkeit des eigenen Denkens.

Das, was vernünftig ist und mit der Welt übereinstimmt, muss sich bekanntlich nicht ändern. Davon zeugt die voranschreitende Unfähigkeit zum diskursiven Verhandeln von Meinungen. Hängt Meinung nämlich an der Selbsterzählung, so wird die Kritik an dieser als Angriff erfahren. Sich überzeugen zu lassen, wird geradezu unmöglich, da Unrecht einzuräumen die eigene Identität fragil werden ließe. Das Argument verliert seinen universalen Charakter, zumindest wenn eine Gruppe von Identitätswilligen es als verletzend empfindet – was auch immer das heißen soll.

In dem Moment, da die Selbsterzählung die eigene Verortung in der Welt ermöglicht hat, wird sie als Wissen und nicht mehr als Erzählung erfahren. Narrativ, also erzählend und nicht dezidiert faktisch, sind dann immer nur noch die anderen und nie man selbst.

Anstatt Identität als etwas zu begreifen, das sich permanent bewegt und dadurch nicht vollends festzumachen ist, wird diese Kontingenzerfahrung verdrängt. Das belegt die Empfindlichkeit, mit der Menschen auf Kritik an ihren Selbsterzählungen reagieren. Dass der Begriff Narrativ überall herumgeistert, ohne tatsächlich etwas auszusagen, ist eine Konsequenz der Selbsterzählung. Sie wird durch Projektion zu einer Erklärung der Welt. Es geht oft nicht mehr darum, nach materiellen Grundlagen für politische Probleme zu suchen, sondern darum, die Hoheit über die Erzählungen zu gewinnen, die das Getriebe am Laufen halten.

Das Problem ist, dass Wissen und Erzählen nicht identisch sind. Narrative legitimieren zwar Wissen, sind aber durch diese Funktion notwendig unterschieden. Wären Wissen und Narrative identisch, könnte das eine das andere nicht legitimieren. Überall Narrative zu wittern, ist deshalb mitnichten emanzipatorisch. Denn diese behaupten die Möglichkeit, Vernunft in einer prekär eingerichteten Welt herzustellen, ohne sie materiell zu ändern. Die Wahrheit aber liegt im Bewusstsein des dialektischen Verhältnisses zwischen Wissen und Erzählen. Sie korrespondieren nicht nur miteinander, sondern benötigen sich jeweils. Die Bewegung des Denkens über den Istzustand hinaus ist zu denken nur innerhalb der Verhandlung der Fragilität dessen, was sicher scheint.

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