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Wiglaf Droste: Als der Frosch noch forsch war
Zum 4. Todestag: Eine Erinnerung an eine Postkarte von Wiglaf Droste
Wann Wiglaf Droste und ich uns kennenlernten, ist durch einen Artikel im Bielefelder »Stadtblatt« dokumentiert: Am 12. Juli 1988 bei einer Droste-Lesung im Bielefelder »Blue Rat«. Damals wohnte er schon in Berlin und nicht mehr in Bielefeld, und ich unternahm den Versuch, ihn zu interviewen. Zu seinem Tod am 15. Mai 2019 wurde dieser Text vom »nd« nachgedruckt. Herauszufinden, wann ich ihn zum letzten Mal traf, bedarf jedoch schon längerer Recherchen und ist selbst dann nicht mehr hundertprozentig zu verifizieren.
Wahrscheinlich war es am 29. Mai 2011 beim Fest der Linken auf dem Gelände der Berliner Kulturbrauerei. Ich war an diesem Sonntag mit dem Fahrrad durch Berlin gefahren und rein zufällig auf das Fest geraten. Entgegen meiner Gewohnheit habe ich mir damals über dieses Treffen nichts im Tagebuch notiert. Das Datum weiß ich auch nur, weil ich zunächst bei einer Veranstaltung hängen blieb, bei der Gregor Gysi und Andrej Hermlin überraschenderweise über Antisemitismus in der Partei der Linken diskutierten, worüber dann in einigen Zeitungen geschrieben wurde. Oder war ich noch einmal in einem anderen Jahr auf diesem Fest und habe Wiglaf dann getroffen? Das ist sehr unwahrscheinlich, denn an diesem Ort fand die große Linke-Party nur noch einmal 2012 statt, und da war ich schon wieder in China.
Auf jeden Fall war es früher Nachmittag, die Sonne schien und Wiglaf stand recht verloren am Stand der »Jungen Welt«, um gelegentlich vorbeischlendernden Fans eigene Bücher zu verkaufen, die er ihnen zuvor mit einer Wunschsignatur versehen hatte. Wir hatten uns damals schon lange nicht mehr gesehen, und ich erschrak bei seinem Anblick. Vor mir stand nicht mehr der kraftstrotzende, korpulente Typ, den ich in Erinnerung hatte; der Alkohol hatte ihn, der damals noch keine fünfzig war, schon deutlich beschädigt. Er war noch nicht so fragil wie ein paar Jahre später, und doch schien sich ein völlig anderer Mensch aus ihm herauszuschälen, den ich zuvor noch nie gesehen hatte.
An den genauen Inhalt unseres nicht allzu langen Gesprächs kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass wir sehr freundlich zueinander waren. Das war nicht selbstverständlich, denn inzwischen hatten wir uns auseinandergelebt. Von gemeinsamen Bekannten hatte ich von immer härteren Alkoholexzessen Drostes gehört, von schlimmen Auseinandersetzungen und Pöbeleien. Das klang alles sehr unangenehm, sodass ich nicht mehr seine Nähe suchte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm, dem Seismologen für Stimmungen, das entgangen war.
Der Entfremdungsprozess hatte sogar schon früher begonnen, nachdem Wiglaf bei gemeinsamen Lesungen nicht aufgetaucht war. Bei einer Veranstaltung zur Popkomm 1995 in Köln hatte das Publikum Gerhard Henschel und mich fast gelyncht, weil die meisten eigentlich nur wegen Droste gekommen waren, der aber einfach nicht erschien. Stattdessen hatte er uns bis kurz vor Lesungsbeginn hingehalten – »Bin schon auf der Autobahn« – und wir das Publikum ebenso lange vertröstet, sodass es sich bei seiner endgültigen Absage – »Sorry, Riesenstau bei Magdeburg, mussten umkehren« – von uns besonders hinterhältig getäuscht sah.
In den folgenden Jahren hatte ich mich bei gemeinsamen Veranstaltungen bereits darauf eingestellt, dass Wiglafs Erscheinen nicht gesichert war. Als er im November 2001 bei der großen Wenzel-Storch-Fundraising-Gala neben Hanns Zischler, Benjamin von Stuckrad-Barre und vielen anderen auf dem Ankündigungsplakat stand, war ich als Moderator des Events vorbereitet, dass er einmal mehr durch präsente Abwesenheit glänzen würde: »Der große alte dicke Mann des joldenen Berliner Humors konnte leider nicht kommen«, erklärte ich dem Publikum leicht genervt, als das Erwartete eingetreten war. »Er deliriert irgendwo in den Kasseler Bergen.« So steht es jedenfalls in meinem Tagebuch, in dem ich mir auch notierte, dass Claus Peymann an diesem Abend dem Pop-Art-Regisseur Wenzel Storch zwar keine Hose kaufte, aber 100 Mark schenkte (was somit auch für die Nachwelt festgehalten wäre).
Wiglaf dürfte mein öffentlicher Spott sicher hinterbracht worden sein. Keine Ahnung, ob sich auch deshalb unsere Kontakte in den nächsten Jahren reduzierten. Entscheidender war aber wohl, dass ich seit 2003 hauptsächlich zunächst in Singapur und dann in Peking lebte und mich nur noch selten in Deutschland aufhielt.
Vor meinem Umzug trafen wir uns aber mindestens noch einmal, auf dem 50. Geburtstag des Verlegers Klaus Bittermann im Juni 2002, der bekanntermaßen nicht nur Wiglafs Bücher verlegt hat, sondern auch eng mit ihm befreundet war. Meinem Tagebuch entnehme ich, dass es ein harmonisches Aufeinandertreffen war: »Wiglaf ist bester Stimmung … Er tanzt mit C., J. will die beiden beim Knutschen im Vorraum beobachtet haben. Mich nennt er laut Krischi, mokiert sich etwas über meine ›Konkret‹-Autorenschaft, singt authentische Lieder und hält eine launige Geburtstagsansprache. Bittermanns Verlag sei nutzlos, genauso wie er selbst; die ›Generation Möllemann‹ – Riesenlacher – werde über alles von uns Geschaffene hinweggehen, als sei es nicht geschehen.«
Ob ich Wiglaf in dem knappen Jahrzehnt zwischen jener Feier und unserer mutmaßlich letzten Begegnung auf dem Fest der Linken noch einmal persönlich zu Gesicht bekommen habe, kann ich nicht sagen. In meinen Tagebüchern findet sich zumindest kein Hinweis. Auch unserer Korrespondenz ist das nicht zu entnehmen, die in den 90ern recht häufig hin- und herging und dann einschlief.
Dazu muss man wissen, dass er ein Freund des schriftlichen Austauschs war, ganz besonders aber ein großer Postkartenschreiber; eine Kulturtechnik, der sich auch andere Leute aus »unseren Kreisen« – Max Goldt zum Beispiel oder Tex Rubinowitz – befleißigten und die mit dem Aufkommen von E-Mails und SMS und später Messenger-Chats inzwischen beinahe ausgestorben ist. Da fällt mir ein: Eventuell wären Schriftsteller-Postkarten mal ein Thema für eine kleine Ausstellung, bevor diese spezielle Kommunikationsform ganz in Vergessenheit gerät? Wer macht’s?
Den Ausstellungsmachern würde ich auch die Postkarte zur Verfügung stellen, die ich vor ein paar Wochen wiederfand und von der ich glaube, dass es die letzte war, die Wiglaf Droste an mich adressierte. Sie trägt einen Poststempel vom 14. Mai 2000 und ist auch deshalb interessant, weil sie auf der Frontseite ein Gedicht zeigt, das 1996 von dem Schriftsetzer Martin Schröder »aus dem Gesangbuch von Wiglaf Droste« gesetzt und gedruckt wurde, das heißt also, kurz bevor sich dieser Mann Martin Z. Schröder nannte. Das ist der – übrigens von Max Goldt erfundene – Name, unter dem Schröder auch etwas später als Romanautor in Erscheinung trat. Auf der Rückseite hat Wiglaf eine kurze Nachricht hinterlassen, aus der sich schließen lässt, dass ich ihn einmal wieder treffen wollte. »Lieber Christian, besuchen geht leider nicht, weil ich auf Tour fahre – alles Gute für Deine Knochen + überhaupt. Ich bin am 21. Mai zurück. Beste Grüße & alles – Wiglaf«.
Weshalb mir Wiglaf Droste damals alles Gute ausgerechnet für meine Knochen wünschte, davon ein anderes Mal. Heute zum Schluss noch einmal zurück zum Kurzgedicht der Postkarten-Vorderseite. Es passt inzwischen so viel besser als damals, als wir beide, Wiglaf und ich, noch halbe Kinder waren. Fast scheint es mir, es hätte auf diesen Tag vier Jahre nach Wiglafs Tod gewartet: »Früher war der Frosch mal forsch / Heute sind die Knochen morsch / Sein Greisentum erscheint ihm weise / Dieses ist die Altersmeise.«
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