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Brasilien: Warum werden Tanzpartys kriminalisiert?
Im afroamerikanischen Funk geht es auch um Drogen und Gewalt. Ein Kriminologe aus São Paulo erklärt, warum es trotzdem nicht die Musik Krimineller ist
Warum beschäftigen Sie sich als Kriminologe mit Funkmusik?
Danilo Cymrot, 38, ist Kriminologe aus São Paulo. Er hat im September 2022 ein Buch zur Kriminalisierung der Funkmusik veröffentlicht. Unter seinem Künstlernamen »Danilo Dunas« macht er selbst Musik.
Es gibt in der Kriminologie zwei Strömungen, die mich interessieren. Eine von ihnen ist die Subkulturtheorie. Sie beschäftigt sich mit Gangs in den Städten und Jugendkriminalität. Junge Leute treffen sich zu Gewalttaten, randalieren. Diese Forschung entstand in den USA in den 50er Jahren, als der Rock aufkam. Ich sage gerne, der Funk ist unser Punk. Eine andere Strömung ist der Etikettierungsansatz, er verschiebt den Fokus weg von der Frage »Warum begehen Menschen Verbrechen?« hin zu der Frage »Warum werden bestimmte Verhaltensweisen als kriminell eingestuft?«.
Warum also wird in Brasilien ein Musikstil wie der Funk immer wieder als kriminell eingestuft?
Das begann in den 90er Jahren. Der Funk hatte mit dem Album »Funk Brasil« von DJ Marlboro zum ersten Mal seine eigenen Texte auf Portugiesisch. Er war in den Favelas von Rio de Janeiro erfolgreich, wurde aber von der kulturellen Elite ignoriert. Das änderte sich mit dem 18. Oktober 1992. An diesem Tag trafen sich zwei rivalisierende Gruppen aus dem Norden der Stadt am Strand Arpoador im Ipanema-Viertel in Rio de Janeiro, einer noblen Gegend. Für gewöhnlich machten sie ihre Wettstreite auf den Baile-Funk-Tanzpartys aus. Nun trafen sie sich am Strand und begannen zu raufen. Es war mehr eine Mischung aus Streit, Tanz, Witzeleien. Nur war das mehrheitlich weiße Publikum solche Szenen nicht gewöhnt. Es gab in den südlichen Vierteln bereits ein Klima der Intoleranz gegenüber jungen schwarzen Menschen. Der Strand sollte eigentlich ein gemeinsamer, demokratischer Ort der Stadt sein, aber für die Anwohner der geschlossenen Wohnanlagen der Zona Sul war der Strand wie eine Verlängerung der eigenen Balkons. Als sich also eine Gruppe junger schwarzer Menschen traf, um zu raufen, wurde die Polizei gerufen. Sie vertrieb die Jugendlichen, die liefen weg, die Polizei lief ihnen nach. Die Medien verbreiten diese Bilder, als hätte es sich um einen Raubzug gehandelt. Das war der erste Moment, in dem viele Leute zum ersten Mal Kontakt mit der Funkszene hatten. Von da an war der Funk für sie eine Sicherheitsangelegenheit, keine kulturelle Ausdrucksform.
Welche Rolle spielen Texte, wenn sie von Gewalt und Drogen handeln?
Die Texte sind ein Element, das eine Kriminalisierung zwar nicht rechtfertigt, aber erleichtert. Der Funk Proibidão etwa ist ein Subgenre, das von kriminellen Gruppen spricht, oft auf schmeichelhafte Art und Weise. Es ist ein fiktives Werk, auch wenn es von der Realität inspiriert ist. Der Autor darf nicht mit dem lyrischen Ich verwechselt werden. Der Autor darf übertreiben, fantasieren, das ist im Funk ganz normal. Manchmal hat der Sänger nicht mal eine Verbindung zum Drogenhandel, trotzdem wird diese Verbindung hergestellt. Sie bringt Glamour, weil es eine Verknüpfung von Gewalt und Macht gibt und jeder gerne als mächtig angesehen wird. Die Gang repräsentiert die Gemeinschaft, viele junge Leute sind selbst Opfer von Polizeigewalt. Funk hat in dem Sinne auch eine symbolische Macht, um zurückzuschlagen. Wenn man schon die Gewalt, die man erlebt, nicht zurückgeben kann, kann man das zumindest auf einer kulturellen, symbolischen Ebene tun.
Sie ziehen auch den Vergleich zum Gospel.
Rio de Janeiro ist eine Stadt mit einem hohen Anteil an schwarzer Bevölkerung und eine der evangelikalen Städte in Brasilien. Man sieht viele junge schwarze Menschen, die in die Kirchen gehen, und viele von ihnen könnten sogar eine Verbindung zum Drogenhandel haben. Es gibt viele evangelikale Dealer. Es gibt auch im Gospel den Vorwurf, dass die Drogenhändler Shows finanzieren, aber trotzdem wird der Gospel nicht kriminalisiert. Niemand würde hingehen und eine Kirche schließen.
Welche Rolle spielen die Sinnlichkeit des Funk, der Hüftschwung, die expliziten Texte zu Sexualität im Funk Putaría etwa?
Eine große Rolle. Schon im 19. Jahrhundert wurden in den Zeitungen die Musikstile Lundu und Maxixe angegriffen, also Musikstile der afrikanischen Diaspora in Brasilien. Schwarzen Menschen wurde vorgeworfen, pornografisch zu sein und unanständig zu tanzen. Warum? Erstens, weil die Beziehung der europäischen Weißen mit dem Körper komplett anders war als die schwarzer Menschen. Schwarze Musik legte traditionell viel Wert auf Rhythmus, Schläge, nicht nur Harmonien und Melodie. Und so ein markanter Rhythmus bringt die Leute zum Tanzen. Das wurde beim weißen Bürgertum als etwas Unanständiges angesehen, es wollte ja die europäischen Gewohnheiten imitieren. Die koloniale Elite betrachtete diese populäre Musik mit Verachtung, so ist das auch mit dem Funk.
Es gab erst viel später Gesetzesvorschläge, die den Funk formell kriminalisieren sollten.
Das erste Mal im Jahr 2017, als ein ganz normaler Bürger den Funk als Delikt gegen die öffentliche Gesundheit und die Jugend einstufen lassen wollte. Im Jahr 2020 wurde der Funk in einen Gesetzesvorschlag von Junio Amaral aufgenommen, dieser ist ein Abgeordneter der extremen Rechten. Er wollte Baile-Funk-Tanzpartys unter freiem Himmel kriminalisieren, wenn sie ohne Zustimmung der Behörden stattfinden. Also, was heute eine Ordnungswidrigkeit ist, sollte ein Verbrechen mit einer Haftstrafe werden.
Keiner der Gesetzesvorschläge kam durch, die Hürden für Baile-Funk-Veranstaltungen wurden dennoch hochgeschraubt.
Ja, sie können zum Beispiel die Zustimmung der Militärpolizei einfordern oder eine Vorlaufzeit von 30 Tagen, außerdem Sicherheitskameras, Metalldetektoren, Krankenwagen oder die Präsenz der Feuerwehr. Doch haben die meisten Veranstalter nicht die Mittel dafür, um all das aufzubringen. Wie sollen sie denn den Lärm isolieren? Doch wenn sie die Auflagen nicht erfüllen, können die Baile-Funk-Partys aufgelöst werden. In São Paulo wurde im Dezember 2019 eine mit Tränengas und Gummigeschossen aufgelöst, neun Jugendliche wurden dabei getötet. Es gibt auch in São Paulo viele Beispiele von Baile-Funk-Partys, die unverhältnismäßig gewalttätig aufgelöst wurden, weil sie die Auflagen nicht erfüllt hatten.
Nimmt die Verfolgung unter der Regierung Lula ab?
Nicht notwendigerweise. Das Drogengesetz aus dem Jahr 2006 ist ja noch das Erbe von Lula und Dilma und damit von einer Regierung, die sich als links und progressiv sah. Gerade unter Linken ist das daher ein heikles Thema, weil man sich nicht gerne selbst kritisiert. Die Gesetzesänderung ließ der Polizei und der Justiz mehr Spielraum – sie konnten Menschen als Konsumenten oder Dealer einordnen und je nachdem folgte eine Freiheitsstrafe oder eben nicht. Es geht dabei nicht unbedingt um die Menge an Drogen, sondern auch um die Umstände.
Was meinen Sie damit?
Eine weiße reiche Person, die mit einer großen Menge Drogen entdeckt wird, wird häufig durchkommen, wenn sie sagt, dass sie selbst konsumiere. Die Chance, dass eine arme schwarze Person, die mit der gleichen Menge Drogen entdeckt wird, als Dealer eingestuft wird, ist viel größer. Auch in meiner Forschungsarbeit habe ich gesehen, dass etwa die Tatsache, eine Funk-CD bei sich zu haben oder unterwegs in Richtung einer Baile-Funk-Party zu sein, von der Justiz schon als Anzeichen gelesen werden kann, dass man Teil einer kriminellen Vereinigung ist. Als ich das gesehen habe, war ich schockiert. Ein junger Mensch der Mittel- und Oberschicht kann Drogen konsumieren in schicken Bars, in die die Polizei nie einen Fuß setzen wird.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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