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Pille für den Mann: Nachfrage vorhanden
Ein Verhütungsmittel, das auf die Spermien statt auf die Eizellen zielt, wurde noch nie bis zur Marktreife entwickelt
Die »Antibabypille« ist in den USA seit den 1960er, in Deutschland seit Mitte der 1970er Jahre das führende Verhütungsmittel. Die Einführung hormoneller Verhütung für cis Frauen ist eng mit der »sexuellen Revolution« der 68er Jahre verbunden, als Frauen die Kontrolle über ihre eigenen Körper einforderten, inklusive ob und wann sie schwanger werden. Die Pille machte es möglich, sich nicht auf die Anwendung von Kondomen durch Sexpartner*innen oder unsicherere Verhütungsmethoden verlassen zu müssen. Auch wenn sie in den letzten Jahren wegen unerwünschter Nebenwirkungen zunehmend in Verruf geraten ist, benannten sie 47 Prozent der heterosexuell aktiven Menschen noch 2018 als Verhütungsmethode. Das heißt, rund die Hälfte von ihnen überlässt die Verantwortung für die tägliche Einnahme der Pille und mit der Verschreibung verbundene Gynäkolog*innenbesuche cis Frauen. Angesichts lauter Forderungen nach gerechter Verteilung von Reproduktionsarbeit erscheint dies kaum zeitgemäß. Die ebenfalls von vielen verwendeten Kondome sind zwar relativ sicher bei perfekter Verwendung, doch bei »typischem« Gebrauch werden 18 von 100 Personen schwanger innerhalb eines Jahres, wenn bei heterosexuellem Sex mit Kondomen verhütet wird. Einem UN-Bericht von 2022 zufolge sind rund die Hälfte aller Schwangerschaften weltweit ungeplant und nicht wenige davon ungewollt – 60 Prozent der ungewollten Schwangerschaften enden in Abbrüchen. Bedarf an weiteren Verhütungsmethoden gibt es also genug. Eine Methode für cis Männer, die im Gegensatz zu einer Vasektomie ohne operativen Eingriff reversibel wäre, könnte diese Lücke füllen. Wie sieht es also mit pharmazeutischen Verhütungsmitteln für cis Männern aus? Laut Umfragen würden bis zu 80 Prozent der befragten cis Männer hormonelle Verhütungsmittel nutzen, die Nachfrage wäre vorhanden.
Von der Theorie zur Praxis
Für spermienproduzierende Menschen gibt es theoretisch drei verschiedene Formen, Schwangerschaften zu verhindern. Zum einen kann eine physische Barriere verhindern, dass Spermien mit Eizellen in Kontakt kommen. Zum Zweiten lässt sich die Funktion von bereits herangereiften Spermien beeinträchtigen – also ihre Beweglichkeit oder ihre Fähigkeit, mit der Eizelle zu verschmelzen, hemmen. Drittens kann versucht werden die Spermatogenese, also das Heranreifen von Spermien, zu verhindern. Während die erste Form mit Kondomen oder Vasektomien viel genutzt und bewährt ist, sind die anderen beiden Optionen bisher rein theoretisch. Und das, obwohl seit Ende der 1970er Jahre an »der Pille für den Mann« geforscht wird.
Auf dem hürdenreichen Weg vom Labor zum Alltagsgebrauch sind schon viele hoffnungsvolle Ansätze gescheitert. Die meistuntersuchte Form ist die hormonelle Empfängnisverhütung. Ihre grundsätzliche Machbarkeit ist seit den 1930er Jahren bekannt und wird seit den 1970er Jahren aktiv erforscht. Einige Merkmale unterscheiden die Spermatogenese von der Reifung von Eizellen. Sie findet nicht durchschnittlich einmal im Monat statt, sondern permanent. Es dauert 64 bis 72 Tage, bis ein Spermium bereit ist, mit jeweils rund 39 Millionen anderen zusammen, auf der Suche nach einer Eizelle den Körper zu verlassen. Für den Reifungsprozess sind Hormone notwendig: luteinisierendes Hormon (LH), follikelstimulierendes Hormon (FSH) und intratestikuläres Testosteron. Anders als beim Menstruationszyklus schwankt der Hormonspiegel bei den meisten cis Männern weniger im Zeitverlauf. Diese Charakteristika erschweren laut dem Andrologen Christian Leiber-Caspers die Entwicklung eines mit der »Antibabypille« vergleichbaren Präparats für cis Männer. Wenn es möglich sei, die Spermienproduktion auf unter eine Million pro Ejakulat zu reduzieren, liege die Wahrscheinlichkeit einer Befruchtung nur bei zwei Prozent – eine mit der bewährten Antibabypille vergleichbare Rate, so Leiber-Caspers.
Test von Hormonspritzen seit 1985
Dies durch die Gabe von Hormonen zu erreichen, wurde auch schon vielfach in klinischen Studien ausprobiert. Zum Beispiel im Rahmen einer 1972 gegründeten Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der inzwischen aufgelösten WHO Task Force for the Regulation of Male Fertility. Sie führte zwischen 1985 und 1990 eine weltweite klinische Studie mit 271 cis Männern durch, denen 200 mg Testosteron-Enanthat als wöchentliche intramuskuläre Injektion verabreicht wurden. Mit der Testosterongabe kann dem Gehirn signalisiert werden, die körpereigene Produktion des Hormons temporär zu beenden, auch in den Hoden. Dies führt zu einer Reduzierung der für die Spermienreifung notwenigen Hormone LH und FSH und einer effizienten Unterdrückung der Spermatogenese. Oral eingenommenes Testosteron hat jedoch eine kurze Wirkungszeit und müsste mehrmals täglich verabreicht werden. Daher wurde eine Testosteronspritze getestet. Im Ergebnis wurden bei rund 60 Prozent der Männer nach drei Monaten keine Spermien mehr nachgewiesen. Diese Probanden verwendeten in einer anschließenden Testphase keine anderen Verhütungsmittel, das Ergebnis war nur eine Schwangerschaft innerhalb eines Jahres. Zudem war der Effekt der Hormongabe reversibel: Die Spermienproduktion startete durchschnittlich rund vier Monate, nachdem die Behandlung beendet wurde.
Auch eine weitere WHO-Studie mit 399 heterosexuellen Paaren bestätigte die kontrazeptive Wirksamkeit von Testosteron. Rund 80 Prozent der Probanden gaben an, mit der Verhütungsmethode nach der Studie weitermachen zu wollen. Doch daraus wurde nichts. Kein Pharmaunternehmen wollte die Weiterentwicklung übernehmen, zu wenig lukrativ wurde der Markt für die Spritze für den Mann eingeschätzt. Zudem machte sich die Fachwelt Sorgen um Nebenwirkungen von Testosteron wie Krebsrisiko oder Verhaltensänderungen, obwohl die Studienlage diese Sorgen widerlegte.
Ab 2008 wurde in sieben Ländern eine intramuskuläre Injektion alle acht Wochen mit einer Kombination aus Testosteron und Progesteron getestet,doch 2011 wurde diese Studie vorzeitig gestoppt, mit der Begründung, die Risiken für die Probanden seien zu hoch. Die Gutachter*innen machten sich Sorgen über Nebenwirkungen wie Stimmungsschwankungen, Depressionen, Schmerzen an der Injektionsstelle und Veränderung der Libido, von denen einige Teilnehmende berichteten. Vielen cis Frauen sind ähnliche unerwünschte Effekte der Antibabypille oder Hormonspiralen bekannt – zuzüglich des Risikos von Thrombosen. Warum werden ähnliche Effekte bei cis Männern ernster genommen? »Der Mann wird nicht schwanger« erklärte Eberhard Nieschlag 2011 gegenüber der Zeit. Frauen seien bereits an Nebenwirkungen gewöhnt, Männer dagegen nicht. Der emeritierte Professor für Reproduktionsmedizin war an der WHO-Taskforce beteiligt. Auch die offiziellen Anforderungen an Medikamente sind höher, da cis Männer nicht den potenziellen Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind, die mit Schwangerschaft und Geburt verbunden sind. Ein Verhütungsmittel für Männer hat daher nur eine Chance auf die Zulassung durch die US-amerikanischen oder europäischen Zulassungsbehörden, wenn nachgewiesen wird, dass es ausreichend wirksam und mit einem absoluten Minimum an Nebenwirkungen verbunden ist.
Eine neue Initiative in den USA versucht zu Ende zu führen, was die WHO-Taskforce in den 1970ern begonnen hat und wovor Pharmafirmen zurückschrecken. Sie setzt dabei auf die Entwicklung von neuen nicht-hormonellen, reversiblen Verhütungsmitteln. Die Male Contraceptive Initiative (MCI) wurde 2013 als gemeinnützige Organisation gegründet und finanziert Grundlagenforschung und klinische Studien. Mit dem Leitbild »Reproduktive Autonomie für alle« haben die Verantwortlichen neben cis Männern auch die LGBTQI-Community im Blick: Da sich rund fünf Prozent der jungen Erwachsenen in den USA als transgender oder nicht-binär identifizieren, bestehe »ein klarer Bedarf, über das binäre Geschlecht hinauszugehen, um sicherzustellen, dass künftige Verhütungsmittel einer Vielfalt von Bedürfnissen und Vorlieben gerecht werden«, so die MCI-Webseite. Insgesamt 22 verschiedene mögliche Wirkungsmechanismen für Kontrazeptiva für spermienproduzierende Menschen werden durch MCI-finanzierte Forschung untersucht.
Spermienreifung als neuer Ansatzpunkt
So beschäftigte sich das Labor von Celia M. Santi an der Washington University (USA) mit einem Reifungsprozess, den Spermien außerhalb der Hoden durchlaufen, der sogenannten Kapazitation. Ohne diese ist die Befruchtung der Eizelle nicht möglich. Ausgelöst durch Botenstoffe im Uterus und weiteren Genitaltrakt ändern die Spermien ihre Oberflächenspannung, indem die Zelle Kaliumionen herauspumpt. Es gab Hinweise, dass der Kaliumkanal SLO3 in die Spermien-Kapazitation involviert ist – diese Theorie überprüfte die Studie der Washington University. Zunächst testeten die Forscher*innen in einem Zellkulturmodell 50 240 Substanzen auf deren Potenzial, SLO3 zu hemmen. Das Medikament mit dem besten Ergebnis namens VU0546110 gaben sie dann im Labor zu menschlichen Spermien und konnten zeigen, dass SLO3 tatsächlich verantwortlich ist für die Kapazitation und VU0546110 diese verhindern konnte. Zudem hemmte die Substanz zwar SLO3, aber SLO1, ein ähnlicher Kaliumkanal, der auch in anderen Körperzellen aktiv ist, wurde nicht von VU0546110 beeinflusst. Dies ist wichtig, wenn es als Verhütungsmittel oral oder als Injektion eingenommen werden soll und potenziell in allen Körperbereichen wirken kann.
Die Versuche fanden bisher jedoch ausschließlich in der Petrischale statt und wie der Reproduktionsmediziner Artur Mayerhofer von der Ludwig-Maximilians-Universität München kommentierte, nur mit sehr wenig Spermien, da die einzelnen Experimente sehr aufwendig seien. Mayerhofer sieht daher zwar wie die Studienautor*innen Potenzial in der Verwendung von VU0546110 als ein Verhütungsmittel der Zukunft, allerdings sei es »vom eindeutigen Laborergebnis bis zur praktischen Umsetzung ein weiter und unvorhersehbarer Weg«. Schließlich müssen zunächst Grundlagen wie die grundsätzliche Verträglichkeit der Substanz überprüft werden.
Verantwortung bleibt ungleich verteilt
Doch selbst wenn VU0546110 diese Hürden meistern würde – Timo Strünker, Reproduktionsmediziner der Uniklinik München weist darauf hin, dass Verhütung bei heterosexuellen Paaren trotzdem »Frauensache« bleiben könnte. Laut Strünker müsse untersucht werden, »ob denn der Mann oder nicht eher die Frau einen SLO3-Inhibitor zur Verhütung einnehmen müsste. Denn der SLO3-Kanal und die Spermien müssen ja nicht im männlichen, sondern erst im weiblichen Körper ihre Funktion erfüllen.« Zudem gaben in einer Umfrage zwar rund 95 Prozent der befragten cis Männer und cis Frauen an, dass Verhütung die Verantwortung beider Partner*innen ist. Doch ein Drittel der befragten Frauen vertrauten ihren Partnern nicht, regelmäßig eine Pille einzunehmen, so zumindest die Ergebnisse einer Umfrage von 2012 aus den USA. Auch heute und hierzulande tragen cis Frauen die Folgen einer Schwangerschaft mehrheitlich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch und beruflich. Schwangerschaftsabbrüche bleiben illegal und stigmatisiert. Und nach wie vor nimmt nur eine kleine Minderheit von Vätern in Deutschland mehr als zwei Monate Elternzeit, rund 60 Prozent setzen gar nicht aus. Solange also die Lebenseinschnitte für cis Männer durch mangelhafte Verhütung gering bleiben, werden sie, in den Worten des MCI, auch keine »neue kontrazeptive Revolution« fordern.
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