- Berlin
- Historischer Stadtrundgang
Erich Mühsam: »Abends bis nachts: bei den Barrikaden in Neukölln«
Hackesche Höfe und Sophiensäle: Auf den Spuren des Anarchisten Erich Mühsam in Berlin
Dezember 1924: Eine Großdemonstration am Anhalter Bahnhof wartet auf die Ankunft eines Zuges aus Bayern. Tausende sind einem Aufruf der KPD-Zeitung »Die Rote Fahne« gefolgt, um den berühmten Revolutionär Erich Mühsam gebührend in Empfang zu nehmen. Nach seiner Freilassung aus der bayerischen Haft wurde dieser als preußischer Staatsbürger in seinen Geburtsort Berlin abgeschoben. Mühsam saß aufgrund seines Einsatzes für die erste Münchner Räterepublik ein.
»Nach seiner dramatischen Ankunft in Berlin sprach Mühsam auf vielen politischen Veranstaltungen«, sagt ein Referent der Gustav-Landauer-Initiative bei einem Stadtrundgang in Mitte, der zu Orten von Mühsams politischem Schaffen in Berlin führt. Seinen Namen möchte der Referent aus Angst vor Nazi-Angriffen nicht in der Zeitung lesen.
Der Startpunkt des Rundgangs ist die Volksbühne am Rosa-Luxenburg-Platz. Hier beteiligte sich Mühsam im Januar 1925 an einer großen Veranstaltung der KPD-nahen Roten Hilfe zur Unterstützung politischer Gefangener. »Mühsam ging einen schwierigen Kompromiss ein. Er arbeitete bezahlt für die Rote Hilfe und schwieg über die anarchistischen Gefangenen in Russland«, sagt der Referent. Das Thema war ein Tabu für die KPD.
Dieses Verhalten brachte Mühsam in Konflikt mit der anarchistischen Bewegung, die ihn schließlich im Oktober 1925 aus der Föderation anarchistischer Kommunisten ausschloss. In den folgenden zwei Jahren nahm er den Kontakt aber wieder auf und trat auch für die gefangenen Anarchist*innen ein. »Damit beginnt eine neue Phase von Mühsams politischer Arbeit, in der er sich bei den Anarcho-Syndikalisten engagiert.«
Mühsam trat mit Genoss*innen in großen Sälen in Berlin auf, die als Veranstaltungsräume von der Arbeiter*innenbewegung genutzt wurden. Ein Beispiel sind die Sophiensäle: Hier schuf der Berliner Handwerkerverein 1904 ein großes Fortbildungs- und Vortragszentrum, so der Referent der Gustav-Landauer-Initiative im Innenhof des Hauses in der Sophienstraße. 1928 habe Mühsam hier mit der Freien Arbeiterunion über die nationalsozialistische Bewegung informiert. »Mühsam hat schon sehr früh erkannt, wie gefährlich die NSDAP war, als andere diese noch nicht ernst genommen haben. Deshalb war diese Veranstaltung so wichtig.« Ein weiterer Veranstaltungsort waren die Hackeschen Höfe, wo auch Räume zum Feiern zur Verfügung standen. »Gefeiert haben hier vor allem Arbeiter*innen«, erzählt der Referent.
Seine Initiative beschäftigt sich auch mit Mühsam, weil dieser eng mit Gustav Landauer zusammengearbeitet hat. Nach wie vor aktuelle Themenfelder wie Anarchie und Ökologie stehen im Fokus der Arbeit der Initiative. »Das wird uns im Angesicht der Klimakrise auch weiterhin stark beschäftigen«, sagt der Referent zu »nd«. Außerdem gibt es seit einigen Jahren ein Projekt, um ein Denkmal für Gustav Landauer in Kreuzberg zu schaffen. »Die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg hat das bereits beschlossen. Jetzt braucht es noch die künstlerische Umsetzung und die Auswahl eines Ortes.«
Anfang dieses Monats hat die Initiative die Notizbücher Mühsams herausgegeben. Erhalten sind die Jahre 1926 bis 1933. Dann wurde Mühsam festgenommen und im Konzentrationslager Oranienburg von den Nazis ermordet. Aus den Notizen gehen Informationen zu Mühsams Leben hervor, die bisher noch nicht bekannt waren, sagt der Referent. So zum Beispiel seine Beteiligung rund um die Unruhen im Mai 1929, ausgelöst durch das Verbot der 1.-Mai-Demonstration durch den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten in Berlin. So war zwar bekannt, dass Mühsam während einer Veranstaltung in Treptow am 1. Mai sprach. Aber seine Notiz vom 2. Mai 1929 verrät, dass er auch auf der Straße aktiv war: »Abends bis nachts: bei den Barrikaden in Neukölln.«
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