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Laura Poitras’ Nan-Goldin-Doku: Schönheit, die über Leichen geht
Mit der Doku »All the Beauty and the Bloodshed« würdigt Laura Poitras die Fotografin Nan Goldin und ihren Kampf gegen einen toxischen Pharma-Clan
OC ist ein Arschloch. Dreckiger als Crack, erbarmungsloser als Heroin, aber legal. OC ist die Abkürzung für das Schmerzmittel Oxycontin, das als Hauptverursacher der Opioid-Krise in den USA gilt. Schätzungen zufolge sind bereits eine halbe Million Menschen daran gestorben. Die Herstellerfirma wusste um die Nebenwirkungen, vertrieb das Mittel aber trotzdem. Nach einem chirurgischen Eingriff 2014 bekommt auch Nan Goldin das Präparat verschrieben. Schon einen Tag später ist die Fotografin abhängig. Die anfangs verordnete Dosis von drei Tabletten steigert sie schnell auf bedrohliche achtzehn. Als Künstlerin hat Goldin vor allem mit authentischen Bildserien über Sexarbeiterinnen, Homosexuelle und trans Menschen für Furore gesorgt. Doch nun bricht das Leben der Amerikanerin auseinander, knapp nur entrinnt sie dem Tod.
Seitdem führt die heute 69-Jährige einen unermüdlichen Kampf gegen Oxycontin. Und zwar dort, wo sie sich auskennt: im Kunstbetrieb. Denn das Pharmaunternehmen Purdue und die dahinterstehende Familie Sackler betätigen sich seit Jahrzehnten als Förderer großer Museen. Davon, wie Goldin eine der reichsten Familien der USA herausfordert, erzählt Laura Poitras in »All the Beauty and the Bloodshed«. Jetzt kommt der aufwühlende Dokumentarfilm, der letztes Jahr in Venedig den Goldenen Löwen gewann, in die deutschen Kinos.
Es sind 120 Minuten voller Gegensätze. Hier Vernissagen-Glamour, dort Totenwachen. Am Notruftelefon die verzweifelten Schreie einer Mutter, die ihren leblosen Sohn gefunden hat, ein paar Minuten später öffentliche Kunstsammlungen, die den Namen Sackler in Stein gemeißelt an die Wände schreiben. Ein artiges Dankeschön für Spenden oder Schenkungen, die mit Blutgeld bezahlt wurden. Könnte der Filmtitel, der übersetzt »All die Schönheit und das Blutvergießen« lautet, passender sein? Am Prinzip des schroffen Widerspruchs orientiert sich auch der Soundtrack, wenn etwa auf das feierliche »Casta Diva« aus Vincenzo Bellinis »Norma« psychedelisches Partywummern von Velvet Underground folgt.
Poitras, Jahrgang 1964, hat bereits mit ihrer Doku über den Whistleblower Edward Snowden (»Citizenfour«) einen erschütternden Blick in amerikanische Abgründe gewagt. Ihrer neuesten Regiearbeit gelingt es nun, scheinbar getrennte Themenstränge mit eindringlichen Bildern zusammenzuführen: das Porträt einer wichtigen Fotokünstlerin und die Kritik an einer über Leichen gehenden Arzneimittelindustrie.
Gleich zum Einstieg wird es laut. Die Kamera begleitet Goldin und ihre Mitstreitenden bei einer Performance im New Yorker Metropolitan Museum. Hunderte orangefarbene Oxycontin-Packungen werfen die Protestierenden in ein Wasserbassin. Wie Quietsche-Entchen treiben die Plastikdosen umher, während die Aktivist*innen ihre Slogans skandieren. Dann Schnitt. Das Gedränge der Kundgebung weicht einer ruhigen Erinnerungssequenz. Aus dem Off ertönt die klare, unaufgeregte Stimme der Künstlerin. Sie blickt zurück auf das verlogene Vorstadtidyll des Elternhauses, ihr Weglaufen mit vierzehn, die brüchigen Lehrjahre zwischen Drogen, Prostitution und Kunst. Vergilbte Fotos fliegen über die Leinwand. Schnappschüsse aus Familienalben, von Freunden und Kollegen, vor allem aber von Goldin selbst. Sie erstellt schonungslose und doch zärtliche Bilder aus der New Yorker Subkultur der späten 70er und 80er Jahre.
Immer wieder begegnen die Opfer einer Gesellschaft, die wegschaut, tabuisiert und Schranken errichtet. Der bitterste Stachel, der Goldin in den persönlichen Rückblenden umtreibt, ist die Erinnerung an die lesbische Schwester. Weil die Eltern mit der unangepassten jungen Frau nicht zurechtkamen, wurde sie in die schwarze Pädagogik der Erziehungsheime abgeschoben. Goldin war elf, als sich die acht Jahre Ältere das Leben nahm. Die Eltern verleugneten den Suizid und sprachen von einem Unfall.
Insbesondere nutzt der Film Material aus Goldins Ton-Dia-Installation »Ballade von der sexuellen Abhängigkeit« (1980–1986). Das Frühwerk verarbeitet unter anderem die Beziehung Goldins zu einem Kerl, der sie so brutal verprügelt hat, dass sie beinahe erblindet wäre. Ihr daraufhin entstandenes Selbstporträt mit blutunterlaufenem Auge ist eine beklemmende Ikone sexuell motivierter Gewalt.
Goldin muss auch mitansehen, wie Aids ihr viele Freund*innen raubt. Mit den Mitteln der Kunst kämpft sie für Aufklärung und Therapie. Und gegen die moralische Verteufelung der Erkrankten. Langsam schält sich heraus, was Goldins Vergangenheit mit der heutigen Opioid-Epidemie verbindet. Die konservativen Denkmuster ähneln denen aus der Aids-Politik der 80er Jahre. Die Immunschwächekrankheit wurde damals ebenso als Konsequenz einer persönlichen Schwäche mythologisiert wie heute die Opioid-Abhängigkeit. Wieder entscheidet allein das Bankkonto über den Zugang zu qualifizierten Therapien. Wäre sie keine gut honorierte Künstlerin, hätte sich wohl auch Goldin nicht erfolgreich behandeln lassen können.
Poitras’ Meisterwerk ist mehr als ein gewöhnliches Biopic, mehr auch als eine Reportage über einen Pharmaskandal. Es ist ein tiefschürfender Bilderessay über Herrschaftsverhältnisse. Sind doch Drogen die ultimative Verkörperung des kapitalistischen Marktes. Eine Ware, die ihre Konsumenten zwingt, nur noch für den Konsum zu arbeiten. Der Ring, sie zu knechten. Aus allen Phasen ihres Lebens kennt Goldin Strukturen von Ungleichheit und Unterwerfung: die Macht der Männer über die Frauen, die Macht der Gesunden über die Kranken, die Macht der ökonomisch Starken über die Mittellosen.
Und besagter Sackler-Clan zählt zu den US-Dynastien mit der größten Macht. Das toxische Imperium duldet keine Kritik und schlägt mit allen Mitteln zurück. Ein investigativer Journalist zitiert aus den juristischen Einschüchterungsschreiben der Sackler-Anwälte, Goldins Weggefährtin Megan Kapler bekam es mit einem finsteren Stalker zu tun.
Der Film lehrt den Zuschauer Ehrfurcht und Respekt. Weil man spürt, wie nötig, wie gerecht der Zorn ist, der sich mit Goldins Initiative Bahn bricht. Aber auch, weil man am Ende lernt, dass selbst in einem Windmühlen-Gefecht Siege möglich sind. Nan und Megan fallen sich in die Arme, als die Meldung aus England kommt: Die National Portrait Gallery in London lehnt auf öffentlichen Druck hin eine Millionenspende der Sacklers ab. Kurz darauf verzichten auch die Londoner Tate, das New Yorker Guggenheim und andere Institutionen auf Gelder des Unternehmens.
Wer weiß, wie viel ein spendables Image in der angelsächsischen Wirtschaftswelt zählt, versteht, dass es die Pharma-Multis tatsächlich empfindlich getroffen hat. Dabei sind die Sacklers keineswegs die einzigen, die moralischen Ablasshandel mit der Kultur betrieben haben. Seit es Museen gibt, wollen fragwürdige Profitmacher ihren Namen und ihre Gewinne durch gönnerhafte Opfergaben an die Kunst reinwaschen. Dank Goldins Beharrlichkeit und Poitras’ Film wird diese Praxis in Zukunft vielleicht ein bisschen weniger gut funktionieren.
»All the Beauty and the Bloodshed«. USA 2022. Regie: Laura Poitras, Start: 25.5.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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