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Johannes Barthelmes: Ganz oder gar nicht
Dem Jazzmusiker Johannes Barthelmes dient das Saxofon dazu, das eigene Leben und am liebsten gleich die ganze Welt mit zu verschönern. Er wird dieses Jahr 70 Jahre alt. Ein Grund, die Erfolge zu feiern und sich mit den Niederlagen zu versöhnen
Sobald Johannes Barthelmes spielt, ist der Saal hingebungsvoll energiegeladen und verzückt, als stehe da vorne ein verliebter Teenager, so vibrierend angefüllt mit Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht. Im Unterschied zum Teenie fließt inzwischen auch eine große Portion Weisheit in seinen Vortrag. Im Herbst 2023 wird dieses Energiebündel 70 Jahre alt. Man könnte fast neidisch werden, ob all dieser Gefühlsintensität und Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm seine Musik ermöglicht. Man versteht sofort, warum er spielt, spielen muss, ist dankbar, dass man selbst von diesen tiefgehenden Botschaften kosten darf. Doch auch wenn Barthelmes in der Lage zu sein scheint, Sternschnuppen vom Himmel zu holen, hat diese Künstlerseele die dunkelsten Kellerräume psychischer und emotionaler Qualen kennengelernt.
Johannes Barthelmes wächst in Speyer (Rheinland-Pfalz) auf. Seine erste Klavierlehrerin legte dem Jungen eine Musikerkarriere als Pianist nahe: »Einer wie du muss auch gar nicht viel üben«, sprach sie. Aber das Klavier konnte ihn nicht hinter dem Ofen hervorlocken. Ein paar Jahre nahm ihn ein Freund in den Frankfurter Jazzkeller mit. Dort wurde in der Pause John Coltrane aufgelegt, und es war dieser revolutionäre Sound, der ihn endgültig in den Bann zog. Jetzt wusste er, was er werden wollte: Saxofonist.
Der Bruch mit seiner Familie war nicht erst seit dieser Entscheidung vorprogrammiert. Da sich Johannes schon als Kind »so anders als die anderen« und selten verstanden gefühlt hatte, war er bereits vor seinem Abitur von zu Hause aus- und in eine eigene Wohnung gezogen. Seine gutbürgerlichen, streng katholischen Eltern hatten für den Berufswunsch Jazzmusiker kein Verständnis. Wenn überhaupt, dann bitte klassische Musik. Aber Jazz?! Als wäre das nicht genug, verweigerte der 20-Jährige auch noch den Wehrdienst und es kam zum endgültigen Zerwürfnis.
Barthelmes aber ging unbeirrt seinen Weg, studierte Jazz und Klassik an der Hochschule in Graz (Österreich) und stieg ins Jazzgeschehen der 1990er Jahre ein. Bald entdeckte er so kongeniale Mitspieler wie die Pianisten Uli Lenz und Bardo Henning. Die ersten Alben entstanden.
Es gab keinen Plan, trotzdem heimste er die besten Rezensionen ein und gewann angesehene Preise, darunter den SWF-Jazzpreis (1989) und den Preis der Deutschen Schallplattenkritik (1994 und 1998). Seine Musik käme von dort, wo man nur noch fühlen könne, schrieb die »Rheinpfalz Landau« einmal, ein gleichsam sprachloses »geil« des angesehenen Jazz-Gitarristen Volker Kriegel in der seriösen »Faz« folgte. Der deutsche Saxofonist spielte inzwischen mit der Crème de la Crème der internationalen Jazzszene. Das rororo-Jazzlexikon sagt: »Unter den europäischen Saxofonisten mit Bezug auf John Coltrane zählt Johannes Barthelmes zur ersten Garnitur.« Johannes Barthelmes hatte es geschafft.
Authentizität in der Musik
Barthelmes sind Konkurrenzgehabe und Überheblichkeit zuwider, aber sein Spiel, seine Botschaften brauchen eine Auseinandersetzung auf gleichem Niveau, menschlich ebenso wie musikalisch. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, stehen den Höhenflügen seiner Improvisationen nichts mehr im Wege. »Die Technik deines Instrumentes musst du allein zuhause üben. Während einer gemeinsamen Improvisation geht es darum, dass man sich so offen zeigt, wie möglich. Inspirierend wird ein Zusammenspiel durch Respekt, Vertrauen, Empathie, Mut zur Ehrlichkeit, Reibung und technische Professionalität.« Es gehe um Authentizität und nicht darum zu zeigen, was man technisch alles draufhat, die Technik sei »nur« Mittel zum Zweck.
Während der Improvisationen passiert eigentlich Ungeheuerliches auf der Bühne: »Improvisationen sind Ad-Hoc-Kompositionen«. Barthelmes große Inspirationen sind Ludwig van Beethoven und besagter John Coltrane, Archie Shepp, Pharoah Sanders. Coltrane und Beethoven wird etwas Geniales nachgesagt, beiden schien es möglich, Kosmisches musikalisch einzufangen. »Auch Beethoven nahm zu seiner Zeit an Improvisations-Wettbewerben teil.« Diese Art zu spielen, könnte privater und persönlicher nicht sein. Die Musiker offenbaren ihren Zuhörern tiefste Ur-Ängste, -Freuden, -Leiden, Sehnsüchte und Träume, die uns alle angehen.
Der Enkel eines Pfarrers, John Coltrane, suchte »das schöpferische Prinzip hinter dem Kosmos«, formuliert Coltrane-Biograf Peter Kemper. Barthelmes sagt: »Wenn ich spiele, habe ich nicht nur Gefühle von Freiheit, sondern auch von Liebe und Spiritualität. Ich spüre eine Geschwindigkeit, die schneller ist, als wenn ich in einer Rakete sitze und eine intensive seelische und körperliche Verausgabung. Im Idealfall ein Wegschweben.«
Manchmal war ihm auch das Saxofon zu wenig. Barthelmes Vorträge wirken nicht wie eine Artikulationsnot, im Gegenteil, mit seiner komplexen Technik der Multiphonics, Mehrfachtonfolgen in rasanten Folgen, ergießt sich ein Schwall von Geschichten in den Raum. »Ich muss irgendwann ein Buch schreiben, sonst platze ich«, er lacht.
Existenzsorgen erdrücken
Doch selbst 100 Jahre nach den Existenzsorgen der ersten großen Jazzer bemerkt er auch: »Ich möchte mit meiner Musik ein künstlerisches Maximum geben. Doch der Kampf um die materielle Existenz ist manchmal erdrückend.« Mit den oft üblichen Konzertgagen lassen sich die aktuellen Lebenshaltungskosten jedenfalls nicht ausgleichen. Er schüttelt den Kopf: »Ich kann das nicht verstehen. Künstler bauen keine Waffen, sondern wollen Frieden schaffen und die Welt verschönern. Vielen gelingt das auch.«
Anfang der 1990er musste sich Barthelmes noch keine großen Sorgen um seine Existenz machen. Doch Ende dieses erfolgreichen Jahrzehnts entwickelte sein Erfolg eine fatale Eigendynamik. Er spielte sich in den Rausch, einen Alkoholrausch, der nicht mehr endete. Alkohol hat jedoch gerade für Bläser fatale Auswirkungen, weil er die Mundregion als erstes betäubt, kann man die Feinmotorik nicht mehr steuern.
In der Silvesternacht 1989/90 beschloss er, mit dem Trinken aufzuhören. Niemand glaubte ihm. Er schaffte den Entzug und im ersten Moment sah alles gut aus, der Profi erlebte die besten kreativen Momente mit sich und seiner Musik überhaupt. Dann fiel er plötzlich in das tiefe Loch einer manifesten Depression: »Ich wusste nicht, dass man besser nicht versucht, so einen Entzug alleine zu schaffen.« Er verletzte sich an der Hand und legte das Saxofon zur Seite. Fast 20 lange Jahre spielte er keinen eigenen Ton mehr, ja, besaß nicht einmal ein Saxofon. Er hatte es verkauft.
Regelmäßig flüchtete er monatelang nach Kuba, Indien, Kreta. Seine Leica-Kamera wurde nun zu seinem neuen künstlerischen Medium. »Die Fotografie hat mir das Leben gerettet«, ist er heute überzeugt. Doch immer, wenn er Jazzmusik hörte, wurde er traurig. Kuba gab und gibt ihm viel, die kubanische Lebensweise und Mentalität entspricht ihm in vielen Dingen viel mehr als die deutsche. »Ein ausgeprägtes materialistisches und konsumorientiertes Denken ist mir unsympathisch, ja zuwider.«
Eines Tages geschieht das nächste Wunder. Ein kubanischer Freund und ebenfalls Saxofonist begriff erst spät, dass der deutsche Fotograf eigentlich ein Musiker war. Als der vermeintliche Fotograf ihm ein Video von sich zeigte, überließ ihm der Kubaner für eine Woche sein eigenes Saxofon. Als Proberaum nutzte Barthelmes die Uferpromenade Malecón in Havanna und begann zu üben: »Ich dachte, ich schaffe es nicht mehr.« Da warfen ihm die ersten Passanten ein paar Pesos in den Koffer. Er lächelte, seine Laune hellte sich auf. Jetzt übte er wirklich sowohl an seinem Lieblingsinstrument als auch an der Herausforderung, die sich Leben nennt. Er stieg wieder ein in dieses fortwährende Spiel.
2021 bringt er nach 20 Jahren Pause sein neues Album »pasión o muerte« heraus. Wieder feiert die Kritik das Album mit den Worten: »Ein hervorragendes, intensives Comeback-Album«. »Es ist erstaunlich, wie viel Kraft, wie viel Brillanz und Leidenschaft sein Spiel hat«, bestätigt Matthias Wegner im Deutschlandradio Kultur.
Derartige Erfolge schreibt sich Johannes Barthelmes nie nur allein auf die Fahnen. Über seine Mitspieler Jan Leipnitz (Drums), Davide Incorvaia (Piano) und Ben Lehmann (Bass) sagt er: »Wir sind eine kongeniale Crew. Es gibt andere Musiker, aber keine besseren. Die Band könnte genauso gut auch ihre Namen tragen. Ich bin zufällig der Dorfälteste.«
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