»So viel Kuchen konnten wir nicht essen«

Wie die Treuhand die Würde der Möbelwerker von Eisenberg ignorierte

  • Uwe Trostel
  • Lesedauer: 5 Min.

Historiker haben unzählige Berichte und Analysen über die Treuhandanstalt und die Folgen ihres Wirkens veröffentlicht. Aber die Relevanz der Erzählungen der Betroffenen, wie sie in der hier anzuzeigenden Publikation zum Ausdruck kommt, können all diese aus Archiven und Akten gewonnenen Einsichten nicht erreichen.

Die Jenenser Literaturwissenschaftlerin Katrin Rohnstock hat sich mit den Mitarbeitern ihres Unternehmens »Rohnstock Biografien« darauf spezialisiert, in einem »Erzählsalon« mündlich vorgetragene Erlebnisse, Erfolge und Brüche von Menschen unterschiedlichster Prägung zu verschriftlichen. Die Betreffenden können so ihre Erfahrungen einer breiten Öfentlichkeit weitergeben, ihre Stimme wird vernommen. Sie werden ernstgenommen. Veranstaltet von der Thüringer Rosa-Luxemburg-Stiftung fanden zwei »Erzählsalons« auch zum Möbelwerk Eisenberg statt. Die dort vorgetragenen Erlebnisse und Erfahrungen etwa des ehemaligen Geschäftsführers Roland Steudel, des einstigen Chefs der Piano-Fabrik Wolfgang Bräutigam, des Vertriebsleiters Bernd Hansen, der Konstrukteurin Irmtraut Fritzsche oder des Lehrausbilders Werner Puhlfürst und des Betriebsleiters Jörg Hilpert liegen nun gedruckt vor.

Das Eisenberger Möbelwerk hatte eine fast 100-jährige Tradition. Die eindrucksvolle Entwicklung des Werkes prägte auch die Stadt. Seine Blütezeit hatte das Werk in den 70er Jahren, als es zugleich der Stammbetrieb des Möbelkombinates war. Schwerpunkt der Erzählungen hier ist die Wendezeit, in der die Treuhandanstalt eine Entscheidung trifft, die das weitere Schicksal des Betriebes bestimmt. Sie übergibt das Werk nicht einer Gruppe leitender, kompetenter Angestellter, die sich dafür bewirbt, es im Management by out zu übernehmen, sondern überträgt es, zusammen mit vier anderen Werken – sozusagen im Sammelpack – einem westdeutschen, branchenfremden Käufer, der den Betrieb in die Insolvenz führt. Ein Trauma, das Millionen von Mitarbeitern von DDR-Betrieben beschieden wurde.

Die wechselvolle Geschichte des Möbelwerkes während der DDR war geprägt von harter Arbeit, Strukturveränderungen, Problemen bei der Produktionssicherung, großen Investitionen in moderne Maschinen aus dem NSW, wie das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet in der DDR genannt wurde. Es wurden Möbel produziert, die hohen Qualitätsanforderungen entsprachen und meist reißenden Absatz fanden. Die Nachfrage nach Möbeln aus Eisenberg war stets höher als die Liefermöglichkeit, obwohl permanent Kapazitätserweiterungen vorgenommen und Rationalisierungsmaßnahmen in großem Stil umgesetzt wurden. So berichtet die Arbeiterin Petra Schreiber: »Unser Betrieb war etwas Besonderes. Wie gern ich dort gearbeitet habe! Auch wenn es manchmal eine elende Plackerei war. Zuerst war ich im Drei-Schicht-System unten in der Vorstufe tätig, später wechselte ich hoch in die Montage. Wir Frauen arbeiteten unter Bedingungen, unter denen heute keiner mehr arbeiten würde. Und trotzdem machte ich die Arbeit gern.«

Die Erzählungen verdeutlichen, mit welch hohem Einsatz sie mit Problemen fertig werden mussten. Im Ergebnis wurden Möbel produziert, die bei Neckermann und Co genauso gefragt waren wie in der DDR und in anderen Ländern, vor allem in der Sowjetunion. Hier gab es sogar eine Warteliste, wie der Geschäftsführer Roland Steudel berichtet: 14 Jahre musste ein Kunde warten, bis er stolzer Besitzer einer modernen Wohnzimmergarnitur aus Eisenberg wurde.

Eine völlig neue, bisher unbekannte Situation prägte plötzlich das Leben der Beschäftigten. Das reichte von der Sorge um den Arbeitsplatz bis zur Massenentlassung von tausend Mitarbeitern Ende des 1991. Irmgard Fritzsche erinnert sich: »Betriebsteile wurden geschlossen, Mitarbeiter entlassen – für uns gänzlich unbekannte Ereignisse. Am Anfang brachten die Kollegen noch Kuchen zum Abschied mit. Aber das ließen wir bald sein, so viel Kuchen konnten wir nicht essen. Die Kündigungswelle rollte.« Die Entlassenen verloren nicht nur ihre Existenzsicherheit, sondern auch ihren sozialen Zusammenhalt, ihre Aufgabe. Noch einmal sei Petra Schreiber zitiert: »Es ist ein Trauerspiel, dass es das Werk nicht mehr gibt. Wir lernten dort gemeinsam, nicht wahr? Es waren viele Familien in dem Betrieb beschäftigt, richtige Familienclans! Wir arbeiteten, lernten und lebten in der Firma … Und plötzlich ist die Firma weg. Eisenberg verlor einen Betrieb. Und viele Arbeitsplätze. Das war das Schlimme.« Und die Buchhalterin Rosemaria Tröber gesteht: »Das Schlimmste war die Einsamkeit. Keiner, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich vorstellen, wie das ist. Ich konnte nicht mehr in die Firma gehen, mich zu jemandem an den Schreibtisch setzen und mal quatschen. Das fehlte mir … Der Verlust von Beziehungen und der Gemeinschaft, die wir waren – das war es, was mich so fertig machte.«

Diejenigen, die bleiben durften, hatten den unbändigen Willen, mit den neuen Anforderungen zurechtzukommen. Da fuhren Verantwortliche des Betriebes in die Nationalbibliothek nach Leipzig, um einen ganzen Tag das GmbH-Gesetz und relevante Bestimmungen zu studieren, denn die hatten bisher keinerlei Bedeutung. Da mussten neue Kunden gewonnen werden, neue Methoden des Managements und Marketings erlernt werden. All das haben die Möbelwerker bravourös bewältigt. Denn sie wollten ihren Betrieb retten. Mut, Flexibilität, Einsatzbereitschaft und Zuversicht führten schließlich dazu, dass das Möbelwerk weiterexistieren konnte – sukzessive schrumpfend auf etwa ein Zehntel der Mitarbeiter von 1989. Trotz vorhandener Aufträge und größten Engagements der Mitarbeiter wurde der Betrieb 2007 geschlossen – ein Trauma, das bis heute viele Möbelwerker wütend macht.

Nun steht die deutsche Gesellschaft wieder vor einer Transformation. Gerade deshalb sollten die Jüngeren, die die Zeit nicht bewusst erlebten und heute die Entscheidungen fällen, die Geschichten der damals Betroffenen hören und lesen. Denn nur sie können die Atmosphäre jener Zeit hautnah schildern. Und nur so werden Erscheinungen, die heute sowohl in Ost als auch in West bedrückende Lebensumstände prägen, erklärbar. Zudem: In den Erzählungen der Betroffenen finden sich Lösungen, wie man den nächsten Umbruch menschlicher und konstruktiver gestalten kann.

Katrin Rohnstock: Möbelwerker erzählen. Das Treuhand-Schicksal des Möbelwerks Eisenberg. 103 S., br., kostenlos erhältlich als PDF oder Printexemplar bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen, Thueringen@rosalux.org.de, oder im örtlichen Wahlkreisbüro der Linken, Steffen Much, steffenmuch@gmx.de bzw. postalisch Roßplatz 13, 07607 Eisenberg.

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