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- Wim Wenders in Cannes 2023
Wim Wenders: Träume von Bäumen und Toiletten
In den zwei Filmen, mit denen Wim Wenders dieses Jahr in Cannes vertreten ist, mischen sich jeweils fiktive und dokumentarische Elemente
Manchmal ist das Einfache an einer Geschichte das Bewegende: Ein Mann findet in einer Mauerspalte in einer öffentlichen Toilette einen Zettel mit einem Tic-Tac-Toe-Spiel darauf. Im mittleren Feld ist bereits ein Kreis zu sehen. Was macht man mit so einem nach einem Mitspieler suchenden Zettelchen? Es wegschmeißen? Zurücklegen? Oder einfach mit dem mysteriösen Fremden weiterspielen? Der Mann entscheidet sich für das Letztere, setzt ein Kreuz in ein freies Feld und legt den Zettel wieder zurück. Er ist kein zufälliger Toilettenbesucher, sondern der Putzmann, der jeden Tag diesen Raum saubermacht, und die Toilette ist nicht irgendein Klo, sondern ein durchsichtiges Häuschen in Tokio, dessen Außenwände sich blickdicht färben, sobald die Tür verschlossen ist.
Von dem Leben des Toilettenputzers Hirayama handelt der neue Film von Wim Wenders, der gerade im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes Premiere feierte. Wir begleiten Hirayama (Koji Yakusho), einen Mann mittleren Alters, in seinem durchstrukturierten Alltag. Er steht bei Sonnenaufgang auf, ohne Wecker, nur mit dem Geräusch des morgendlichen Straßenfegens, besprüht seine Pflanzen, putzt sich die Zähne, schneidet seinen Schnurrbart, zieht sich seine Uniform mit der Aufschrift »The Tokyo Toilet« an, holt sich einen Dosenkaffee, setzt sich in sein Auto und fährt zur Arbeit – zu den öffentlichen Toiletten Tokios.
Die Kamera lässt sich Zeit mit den Details, genauso wie der Mann mit seiner Arbeit. Sorgfältig wird jede Ecke in der Toilette geputzt. Nicht einmal die eiligen, betrunkenen oder unhöflichen Toilettengänger*innen, die das Häuschen während des Putzganges benutzen, können ihn aus der Ruhe bringen. In der Mittagspause, die er im Park verbringt, fotografiert er mit einer alten Analogkamera die Bäume, die Sonnenstrahlen zwischen den Blättern. Nach der Arbeit geht es zum öffentlichen Bad, danach in ein Lokal zum Abendessen. Und zum Einschlafen liest Hirayama William Faulkners »The Wild Palms«.
Dann beginnt ein neuer Tag – mit demselben Ablauf. Die Tage werden durch schwarz-weiße Traumszenen getrennt: Hirayama träumt von den Bäumen, dem Zusammenspiel von Licht und Schatten. Im Japanischen gebe es dafür das Wort »Komorebi«, erklärt Wim Wenders im Interview mit »nd«. Das sei der Schatten, den die Sonne durch Blätter werfe. »Das ist ein kleines Schauspiel, das sehr vergänglich ist und das eigentlich nur noch für den, der guckt, gerade da ist.«
Komorebi ist also Hirayamas Lieblingsgegenstand des Fotografierens. Jedes Wochenende kauft er sich eine neue Filmrolle und lässt die während der Woche aufgenommenen Fotos entwickeln. Die Szenen, die Lebensrituale dieses Mannes hypnotisieren einen so, dass man sich irgendwann mitten im Film fragt, wann man ihn zum letzten Mal sprechen gehört hat, so sparsam ist er mit den Worten. Genauso sparsam ist Wenders mit der Handlung. Filmmusik gibt es auch nicht, außer wenn Hirayama im Auto Kassetten hört. Das ist das Einzige, was sich in seinem Tagesablauf ändert: jeden Tag eine andere Kassette, mal japanische Musik, mal englischsprachige Songs aus den 70ern oder 80ern. Auch das titelgebende Lied »Perfect Day« von Lou Reed wird in seinem Wagen vorgespielt.
Was hat Wenders dazu bewogen, einen Film über das Leben dieses Mannes zu drehen? Bringt etwa die Besonderheit der Tokioter Toiletten einen dazu, darüber nachzudenken, wer die Menschen dahinter sind? Der Grund sei erstens Heimweh nach Tokio gewesen, sagt Wenders zu »nd«. Außerdem habe er eine Einladung bekommen, ob er sich die Toilettenpaläste von 15 Architekten in kleinen Parks in Tokio, die 2020 eröffnet worden seien, anschauen und einen Dokumentarfilm darüber machen wolle. »Das waren wirklich Träume von Toiletten! Wenn man überlegt, wo man gerne auf ein stilles Örtchen gehen und sein Geschäft verrichten würde mitten in der Stadt, kann man sich nichts Schöneres vorstellen«, so Wenders.
Doch er hatte dann eine andere Idee, als eine Doku über Klos zu machen. »Es ist ja ein Sozialprojekt, und das Schöne daran ist, dass man am Häuschen mehr über Japan erzählen kann, nämlich etwas über den Stellenwert, den Dienst hat, Dienst an der Allgemeinheit, und auch überhaupt über das Gemeinwohl«, erzählt der Regisseur im Interview. So wollte er lieber einen Film über das Allgemeinwohl machen, und dafür wurde die Figur von Hirayama entwickelt: jemand, der in der Zeit von Smartphones und Spotify analoge Fotos macht und Kassetten abspielt. Eine Märchenfigur von heute eben: ein Toilettenputzer mit Komorebi-Träumen; sein Haus voller Bücher, sein Hobby das Fotografieren von Bäumen. Man denkt an den Busfahrer in Jim Jarmuschs »Paterson« (2016), dessen Leidenschaft Gedichteschreiben war. Doch Koji Yakushos Hirayama wirkt im Gegensatz zu Adam Drivers Paterson nicht bemüht. Man kann ihm tatsächlich den ganzen Tag lang zuschauen.
Ohne einige Nebenfiguren in der Geschichte und vor allem ohne die Traumsequenzen hätte »Perfect Days« fast wie eine Doku gewirkt. Interessanterweise arbeitet Wenders bei seinem mit der 3D-Kamera gedrehten Dokumentarfilm »Anselm« über den Künstler Anselm Kiefer, der ebenfalls dieses Jahr in Cannes präsentiert wurde, wiederum mit Spielfilmelementen. Und da spielt auch das Traumhafte wieder eine Rolle: Der Film beginnt gleich in einem traumähnlichen Zustand. Ein Operngesang erklingt. Wir sehen Frauenstatuen ohne Kopf in Brautkleidern. Langsam fangen auch andere Frauenstimmen an, etwas in unterschiedlichen Sprachen zu wispern. Die Frauen der Antike sind es (eine Rauminstallation Kiefers), die Wenders als die Erzählerinnen der Geschichte ausgewählt hat.
Erst nach diesem langen Prolog erscheint der Künstler selbst im Bild: Er fährt mit seinem Fahrrad in sein riesiges Atelier in Südfrankreich. Man merkt nach einer Weile, dass »Anselm« keine typische Doku mit sogenannten Talking Heads ist. Außer drei, vier Ausschnitten aus einigen Interviews und Ausstellungsberichten kommen selten Menschen zu Wort. Sogar Kiefer selbst erzählt nicht viel über sich. »Ich fühle mich gar nicht angekommen«, sagt er beispielsweise mal in Venedig, umgeben von seinen Kunstwerken, »ich bin auf dem Weg, aber nicht auf der Flucht.«
Stattdessen lässt Wenders die Kunstwerke für sich sprechen oder zeigt den Künstler beim Schaffen. Seine Arbeitsweise ist tatsächlich faszinierend: wie er auf seiner Hebebühne an seinen großformatigen Gemälden malt, sich Blei als Arbeitsmaterial ins Atelier transportieren lässt oder mit dem Flammenwerfer seine Werke anfertigt, während etliche Assistenten mit dem Feuerlöscher in der Hand ihm zur Verfügung stehen, um nach seinem Kommando die Flammen zu dämmen. Man fragt sich, ob er Maler ist oder vielmehr Alchemist.
Neben deutscher Geschichte und der Nachkriegszeit prägten auch Persönlichkeiten wie Paul Celan, Martin Heidegger und Ingeborg Bachmann Kiefers Arbeiten. Auch über sie wird etwas in der Doku erzählt. Besonders bewegend wird das Gedicht »Todesfuge« des jüdischen Dichters Celan vorgelesen, das Kiefer zu seinen Gemälden »Dein goldenes Haar, Margarete« und »Dein aschenes Haar, Sulamith« inspiriert hat.
Um verschiedene Lebensphasen des Künstlers darzustellen, arbeitet Wenders bemerkenswerterweise sogar mit Schauspielern. Es gibt zwei Darsteller im Film, die den Künstler Anselm Kiefer in zwei unterschiedlichen Altern verkörpern: Kiefers eigener Sohn spielt den Künstler als jüngeren Mann, und Wenders’ Neffe wiederum den Künstler als Schulkind. Wie kam es, dass der Spielfilm von Wim Wenders wie eine Dokumentation und die Doku wie ein Spielfilm wirkt? »Sie sind mir auf die Schliche gekommen«, antwortet Wenders »nd«. »Ich mache wirklich meine Dokumentarfilme gerne mit fiktiven Elementen. Ich drehe die auch gerne so, wie man einen Spielfilm dreht. Also, meine Dokumentarfilme sind nicht mit der Wackelkamera, aber für den Spielfilm haben wir alles aus der Hand gedreht.« Und der Schauspieler Koji Yakusho habe für seine Rolle in »Perfect Days« 14 Tage lang Klos saubergemacht, verrät Wenders. »Dem konnte ich wie in einem Dokumentarfilm zugucken.«
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