Heimatlos mit Heimweh

Ob »Expat« oder Migrant: Die alte Heimat wird man nie los

  • Jana Talke
  • Lesedauer: 4 Min.
Sind auch genug Eiswürfel drin? In Europa nicht selbstverständlich.
Sind auch genug Eiswürfel drin? In Europa nicht selbstverständlich.

Howdy aus Texas, liebe Lesende, was ist der Unterschied zwischen Auswanderer und Migrant? Migranten müssen ihrer neuen Heimat dankbar sein, sich mit schlechteren Jobs zufriedengeben, sich integrieren – nur um dann zu hören, dass sie aus einer »fremden Kultur« stammten. Migrant ist, wer aus armen, politisch instabilen Ländern flieht, immigriert, wie meine Familie und ich 1996 aus der frisch gegründeten, aber dennoch abgestandenen russischen Föderation nach Deutschland. Auswanderer, auch »Expats« genannt, brauchen sich nicht zu integrieren, denn ihre Kultur bereichert die neue Heimat; meist bringt ihr internationaler Job sie ins Land. Privilegierte Weiße aus dem Westen wandern oft erneut in den Westen aus, manchmal auch in den Wilden Westen, wie mein Mann und ich 2016 aus Deutschland nach Texas. Ob Auswanderin oder Migrantin, Sie sehen, ich kann beides.

Talke talks
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.

Und obwohl auswandern weitaus angenehmer ist als immigrieren – wer will sich schon Alkoholismuswitze anhören, wenn er für die Autobahn gelobt werden kann –, so bergen beide Arten von Landflucht ihre Tücken. Sobald man seine alte Heimat für eine andere verlässt – ganz egal, wie gut man schon in der neuen Landessprache beim Autofahren fluchen kann – bricht in einem ein lebenslanger Identitätskampf los. Und ich meine nicht nur das stereotype »Wer bin ich?«, sondern auch kleinere Fragen à la: »Warum schleppen wir uns immer ins deutsche Restaurant, obwohl es dort nicht mal gut schmeckt?« Oder: »Wieso waschen sich die Flecken in der Wäsche nie so gut raus wie in Deutschland?« Der Alltag ist voller Kleinigkeiten, die einen entweder wehmütig machen, wie die Erinnerung an den Geschmack von echtem Brot, oder wütend, wie die weinerlich-pessimistischen Nachrichten aus Deutschland, die wir uns noch immer brav reinziehen; von neuen Traditionen, die einen abstoßen, wie der texanischen Flagge die Treue schwören, oder ins Schwärmen bringen, wie die amerikanische Kinderfreundlichkeit. Man ertappt sich dabei, so nervig zu werden wie die eigenen Migranteneltern, indem man alle um einen herum, ob es sie interessiert oder nicht, mit Vergleichen zwischen neuer und alter Heimat vollquasselt. Jedoch lobt man das Daheim nicht nur, man muss es auch gründlich kritisieren – soll es etwa umsonst gewesen sein, ganze Regenjacken zu entsorgen, Einparken zu verlernen und sich durch schlechtes Bier zu probieren?

Unter Emigrés und Expats beschwert man sich gern und oft über Amerika (das Brot! die Waschmaschinen!), in Gesprächen mit Einheimischen, die unglücklich über die USA sind, wird dagegen der neue Patriotismus geweckt (»Vergiss Europa, dort haben deine Kinder viel weniger Chancen als hier!«). Meinen Warnungen zum Trotz wandern so viele Amerikaner wie noch nie aus den USA aus, um sich dann in westeuropäischen Staaten an der Kürze der Arbeitszeiten zu laben und sich zu beschweren, dass dort nicht genug Eiswürfel in Getränken sind oder dass man Müll recyceln muss.

Apropos Amerikaner: Meine fünfjährige Ami-Tochter wurde zwar hier geboren, spricht aber noch hauptsächlich Deutsch, erstens, weil das unsere Familiensprache ist, und zweitens, weil sie zwei Jahre lang den deutschen Kindergarten in Dallas besucht hat. Russische Bekannte sind empört, dass sie nicht auf eine russische Schule geschickt wurde, aber das arme Kind hat im russischsprachigen Tanzkurs schon genug durchgemacht. Deutsche Freunde und Verwandte dagegen sind empört, dass unsere Tochter sich noch nicht integriert habe, und meinen, dass sie in einen amerikanischen Kindergarten hätte gehen sollen. Doch ich weiß aus meiner migrantischen Kindheit in Hamburg: Wer seine Muttersprache behielt, sprach am Ende immer ein besseres Deutsch. Pädagogisch wertvoll ist auch die Pflege des höheren Kulturguts in der Herkunftssprache: Als wir neulich im Stau standen und ich frustriert seufzte, wollte meine Kleine mich aufheitern und fing auf einmal an lauthals »Schatzi, schenk mir ein Foto« zu singen, ein Lied, das sie im Kindergarten gelernt hatte. Egal wie jung oder weit weg man ist, es ist nie zu früh, sich auf das Oktoberfest vorzubereiten.

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