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Hanau: Chaos bei der Polizei
Ein interner Bericht belegt zahlreiche Defizite bei der Polizeiführung in Südhessen
Am 19. Februar vor drei Jahren wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov von einem Rassisten in Hanau erschossen. Die Polizei hat ihren Einsatz in der Tatnacht aufgearbeitet und die Erkenntnisse neun Monate nach den Morden in einem Abschlussbericht niedergelegt. Das Transparenzportal Frag den Staat hat diese 50-seitige »Nachbereitung Anschlag Hanau« jetzt veröffentlicht.
Das vom Polizeipräsidium Südosthessen erstellte Dokument basiert auf Protokollen, Ermittlungsakten, ausgefüllten Fragebögen und einer »Vielzahl persönlicher Gespräche sowie Studium persönlicher Aufzeichnungen zum Einsatzgeschehen«. Es bestätigt die bereits bekannte Kritik und belegt, dass die Polizei neben spontanen Problemen und Pannen auch von der eigenen Technik überfordert war.
Demnach war auch die interne Funk- und Telefonkommunikation »dauerhaft ausgelastet«. Sogar der Polizeiführer vom Dienst sei nicht erreichbar gewesen, da seine öffentlich bekannte Telefonnummer von Journalisten, Konsulatsangehörigen, »Personen des öffentlichen Lebens« und »interessierten Bürgern« angerufen worden sei. Seine Erreichbarkeit durch andere Beamte habe damit »vom Zufall« abgehangen, so der Bericht. Zudem habe es »Anwendungsprobleme« beim Digitalfunk gegeben. Die Leitstelle habe keine verständlichen Aufträge erteilt und nicht für die nötige Funkdisziplin gesorgt. Der Begriff meint das Unterbinden von Witzen, Beleidigungen oder anderen Störungen in der Kommunikation.
Die Leitstelle sei außerdem von den eintreffenden »Informationen im Überfluss« überfordert gewesen und habe diese kaum verifizieren und bewerten können, so der Bericht. Dieser Zustand habe »in den ersten drei Stunden nicht vollumfänglich behoben werden« können. Drei Monate vor dem Anschlag hat die Polizei ein neues Einsatzführungssystem in Betrieb genommen. Es ist unter anderem für parallele Einsätze konzipiert und kam zu den Morden in Hanau erstmalig in einer Großlage zum Einsatz. Jedoch war die benötigte Software nicht in allen Dienststellen installiert oder die Beamten nicht für die Anwendung geschult.
Das Kommunikationschaos sorgte auch dafür, dass die Öffentlichkeit nur schleppend informiert wurde. Vor Ort seien ungeschulte und nicht sprechfähige Beamte »in die missliche Lage« gekommen, von Journalisten nach Informationen gefragt zu werden. Dieser »Verlust der Deutungshoheit« sei durch fehlende Pressesprecher verstärkt worden.
Wegen der Entschärfung einer Weltkriegsbombe nahe dem Frankfurter Flughafen waren viele Polizisten aus Südhessen sowie die Befehlsstelle im Polizeipräsidium am Tatabend anderweitig gebunden. Aber auch freie Kräfte wurden teilweise verspätet an die Einsatzorte gebracht. Denn ein für derartige Lagen installierter Alarmierungsserver sei »aufgrund von Anwendungsproblemen nicht benutzt« worden. Viele Beamte im alltäglichen Dienst hätten zudem Schwierigkeiten gehabt, in die Routine einer »Sofort- und Sonderlage« zu wechseln. Aus diesem Grund seien auch die »zeitnah und zahlreich an den Tatorten erschienenen Angehörigen« durch ungeschulte Beamte betreut worden.
Das mag eine Erklärung dafür sein, dass Familienmitglieder teils falsche Mitteilungen über den Gesundheitszustand ihrer Angehörigen erhielten. Dies wird unter anderem von der Initiative 19. Februar Hanau seit Jahren kritisiert. Kritik übt die Initiative aus Angehörigen und Unterstützern auch daran, dass sich die Polizei vor allem um den Vater des Attentäters gekümmert habe, während Angehörige der Opfer als mögliche Gefahr eingestuft worden seien. Frag den Staat hat ein internes Protokoll der Polizei veröffentlicht, das dies belegt. Demnach hätten Beamte die Opferfamilien als »potenzielle Gefährder« für den Vater betrachtet und deshalb »eine Art Gefährderansprache« durchgeführt, wie eine weitere Notiz ausführt.
Ein ähnliches Chaos herrschte bei der Tatortsicherung. So wurde etwa der Mercedes, in dem Vili Viorel Păun leblos am Lenkrad saß, nur zu einem Drittel mit einem Rundumschutz versehen. Bei Polizei oder Feuerwehr in ganz Hanau seien keine weiteren Sichtschutzplanen mehr verfügbar gewesen, schreibt die Polizei. Erst nach Stunden habe eine Streife eine Stellwand gebracht, eine verbleibende Lücke habe schließlich ein Streifenwagen geschlossen.
Im Führungsstab der Polizei musste »in hohem Maße improvisiert werden«, so der Bericht. Deshalb brauche es weitere Schulungen an Technik und Abläufen für die Beamten. Viele der Probleme sollten durch einen Neubau des Polizeipräsidiums Südosthessen in Offenbach gelöst werden, heißt es weiter. Das Gebäude wurde zwei Jahre nach dem Anschlag offiziell übergeben.
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