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Dirk Oschmann: Fatale Signale
Dirk Oschmann über Ungleichheiten und Unerhörtheiten, die Kluft zwischen Ost und West und was zu tun ist, um die Vereinigung zu vollenden
Herr Oschmann, »Der Osten – eine westdeutsche Erfindung« ist nicht Ihr erstes Buch. Sie haben über Kracauer, Schiller und Kafka publiziert, damit aber keine Bestseller gelandet, die es gar innerhalb von drei Monaten auf zehn Neuauflagen gebracht haben. Wir erklären Sie sich den Erfolg Ihres neuesten Werkes?
Vielleicht, weil ich Millionen aus der Seele spreche, schmerzhaft empfundene Ungerechtigkeit anspreche.
Das haben aber vor Ihnen schon andere Autoren und Autorinnen getan, beispielsweise Daniela Dahn, Juli Zeh, Ingo Schulze oder auch Linkspolitiker.
Ich habe mich nicht danach gedrängt, ein solches Buch zu schreiben, das derart in den aktuellen Diskurs eingreift. Ich fühle mich in der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert zu Hause.
Am Anfang war ein »FAZ«-Artikel ...
Dirk Oschmann, 1967 in Gotha in einer Arbeiterfamilie geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Amerikanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie an der State University of New York. Seit 2011 ist er Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Sein Buch »Der Osten – eine westdeutsche Erfindung« (Ullstein, 224 S., geb., 19,99 €; Rezension im »nd« siehe 30. März) stand wochenlang auf der »Spiegel«-Bestsellerliste und löste eine Diskussion über die Diskriminierung der Ostdeutschen aus.
Ja, auf den ich unerwartet lebhafte, kontroverse Reaktionen erhielt. Ich fühlte mich daraufhin zu einer umfangreicheren Betrachtung verpflichtet, ermuntert durch Ingo Schulze. Und durch die Erfahrung, plötzlich Einladungen zu Veranstaltungen zu bekommen, weil ich offenbar als »Exot« wahrgenommen wurde. Anfangs habe ich die Einladungen ausgeschlagen, mich jedoch dann entschieden, Position zu beziehen. Befördert auch durch mediale Schlagzeilen wie »So tickt der Osten«, die Ostdeutsche als sonderbare Wesen beschreiben und auf das eigentliche Problem nicht eingehen.
Was ist das eigentliche Problem?
Dass über 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung Ostdeutsche noch immer nicht adäquat auf Leitungsebenen repräsentiert sind. Gemäß ihrem Bevölkerungsanteil müssten sie in entscheidenden Positionen in der Gesellschaft, in Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kultur 18 bis 19 Prozent ausmachen, in der Realität beträgt ihr Anteil jedoch nur zwei bis vier Prozent, in der Bundeswehr sogar null. Das bestärkt den Eindruck, dass Ostdeutsche nicht ernst genommen werden, keine Chance erhalten sollen, ihre eigene Kraft und Kompetenz einzubringen, die Gesellschaft angemessen mitgestalten zu können. Ostdeutsche fühlen sich ausgeschlossen, und sie werden auch nachweislich ausgeschlossen.
Und dies verstößt gravierend gegen das Gleichheitsprinzip im Grundgesetz.
Die Wurzel des Übels ist, dass man 1990 keine wirkliche Wiedervereinigung angestrebt hat, sondern beide deutsche Staaten über den Beitrittsparagrafen, Artikel 23 GG, zusammengeschlossen hat und von vornherein feststand, dass der Westen die Norm setzt und der Osten sich anzupassen habe. Man hat sich nicht für eine Vereinigung auf Augenhöhe entschieden, nicht dafür, dass jeder Teil Deutschlands seine Potenziale gleichberechtigt einbringt. Abgelehnt wurde damit etwa die Erarbeitung einer neuen Verfassung oder die Wahl einer neuen Nationalhymne; hierfür wurde ja Bertolt Brechts »Kinderhymne« von 1950 diskutiert, »Anmut sparet nicht noch Mühe«.
Man hat die Chance ausgeschlagen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Was zumindest ein wichtiger symbolischer Akt gewesen wäre. Stattdessen wurden 1990 fatale Signale mit erheblichen Langzeitwirkungen ausgesandt. Der Osten wurde als Anhängsel abgestempelt und wird bis heute als Abweichung von der Norm betrachtet. Die Ausgrenzung von Millionen Bürgern an der Mitgestaltung und Mitentscheidung bei gesellschaftlich relevanten Fragen und mehr noch die Unterstellung, die Ostdeutschen seien demokratiefeindlich oder zumindest demokratisch skeptisch eingestellt, birgt eine große Gefahr. Was soll man von einer Demokratie halten, an der Millionen Bürger nicht angemessen mitwirken können?
Es ehrt Sie, dass Sie sich selbst als bestallter Literaturwissenschaftler ostdeutscher Herkunft zu den Ausnahmen von der Regel bezeichnen. Bekanntlich wurden nach 1990 ostdeutsche Wissenschaftler en masse abgewickelt, deren Lehrstühle von Wissenschaftlern westdeutscher Provenienz eingenommen. Und noch heute sind Ostdeutsche an ostdeutschen und erst recht westdeutschen Universitäten und Hochschulen unterrepräsentiert. Sie weisen darauf hin, dass sich Ihr berufliches Glück unter anderem Freunden in der anglo-amerikanischen Zunft verdanke?
Ja, leider genügen eigene Leistungen und Verdienste oft nicht. Man muss Glück haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und die richtigen Leute kennenzulernen. Berufliche Karriere ist für viele Ostdeutsche noch immer eine Frage des Zufalls. Mir hat es geholfen, dass ich in den USA studieren, forschen und mehrfach als Gastprofessor lehren konnte.
Fehlende Repräsentanz Ostdeutscher in Führungsebenen ist nur die eine Seite der Medaille, die andere ist die nach wie vor große Kluft bei den Löhnen und Gehältern, was für viele Ostdeutsche wesentlich existenzieller ist.
Im Schnitt verdienen Ostdeutsche 22,6 Prozent weniger als Westdeutsche bei gleicher Arbeit. Das ist eine gravierende Größe. In der Autoindustrie sind es gar 40 Prozent, in der Textilindustrie 69. Das sind natürlich ganz skandalöse, nicht hinnehmbare Zustände. Sie führen zu einer Verstetigung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten. Die ungleiche Entlohnung hat den Effekt, dass Ostdeutsche kein Kapital, kein Vermögen, keine Rücklagen bilden können und damit ihre Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten auch relativ niedrig bleiben. Gewiss, soziale Ungleichheiten gibt es überall, ob in der Schweiz, in Frankreich, in den USA, in Bangladesch oder in Katar, aber nicht derart massiv in einem historisch, geografisch und ethnisch recht homogenen Raum wie in Deutschland. Das ist singulär. Das kennt man eigentlich nur aus kolonialen Zusammenhängen.
Als Kolonisation haben denn auch viele Ostdeutsche den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik empfunden. Wenn sie dies kritisierten, wurden sie gescholten. Dabei sprachen selbst Vertreter der westdeutschen Elite unter umgekehrten Vorzeichen davon. Sie zitieren in Ihrem Buch den Politologen Arnulf Baring, der 1991 in einem Gespräch mit Wolf Jobst Siedler bezüglich der DDR-Bürger von »verzwergten Menschen« sprach, »hirnlose Rädchen« und »willenlose Gehilfen«, deren Wissen »auf weite Strecken völlig unbrauchbar« sei. Woraufhin der Verleger »eine langfristige Rekultivierung« des Osten forderte, »eine neue Ostkolonisation«. Unglaublich!
Das sind Aussagen von vor 30 Jahren. Man könnte fragen: Welche Relevanz besitzen diese noch heute? Leider geistern solche Ansichten immer noch durch manche Köpfe. Man denke nur an die Forderung von Mathias Döpfner kürzlich, man solle den Osten in einen Agrarstaat mit Einheitslohn verwandeln. Solche Intentionen gab es von Seiten der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges aus US-Kreisen bezüglich des besiegten Deutschlands. Stichwort: Morgenthau-Plan. Das sind virulente Kolonialisierungs- und Ausgrenzungsphantasien ersten Grades. Allerdings ist vieles, was in diesem fatalen, seit Anfang der 90er Jahre kolportierten Narrativ steckt, Wirklichkeit geworden. Der Osten wurde deindustrialisiert, die Ostdeutschen wurden deklassiert und werden diskreditiert. Man erinnere sich an Wortprägungen wie »Buschzulage«. Das koloniale Reden war da nicht nur die Begleitmusik. Die Androhung hat sich bewahrheitet, ob man das nun wahrhaben will oder nicht.
Heftige Empörung hat jüngst aber vor allem Döpfners Verdikt geerntet, die Ostdeutschen seien allesamt entweder Kommunisten oder Faschisten.
Aber das weiß doch jeder! (lacht) Nein, was soll man vom Springer-Chef anderes erwarten? Man erwartet von ihm genau das, was er sagt.
Derlei Schmähungen gibt es aber nicht nur von der sogenannten westdeutschen Elite, sondern ist auch von manch Ostdeutschem zu hören, etwa vom Pfarrer a.D. und Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck, der nicht müde wird, seine Landsleute diktaturgeschädigt und demokratieresistent zu nennen.
Natürlich, ich bin auch total diktaturgeschädigt! (lacht) Ich war bei den Jungen Pionieren und in der FDJ – und ich habe gerade die Konfirmation meiner Tochter gefeiert. Nein, man muss nicht über jedes Stöckchen springen, das einem hingehalten wird. Sie haben aber insofern recht, dass es d i e Ostdeutschen oder d i e Westdeutschen nicht gibt. Es gibt aber sehr wohl Phänomene, die verallgemeinerungswürdig, verallgemeinerungsnotwendig sind, um gesellschaftliche Probleme zu benennen und zu bewältigen. Manche meinen zwar, dass sich die Differenzen mit der Zeit verwachsen, biologisch lösen werden. Ich glaube allerdings nicht daran. Ich befürchte eine weitere Kontinuierung der Ungleichheiten zwischen Ost und West. Denn es wird auch das Bewusstsein von erlittener Ungerechtigkeit vererbt. Die Erzählungen der Eltern und Großeltern leben fort in den Kindern und Enkeln, die oftmals sogar noch selbst erleben müssen, dass Karrieren nur im Westen oder über Stationen im Westen stattfinden und im Osten nicht in der Art realisiert werden können. Und natürlich bestehen weiter die harten realen ökonomischen, finanziellen und symbolischen Ungleichheiten.
Ja, man muss nicht jede Äußerung als diskussionswürdig aufgreifen. Dennoch möchte ich auf die Behauptung, die Ostdeutschen seien demokratiefeindlich, zurückkommen. Könnte des »Pudels Kern« nicht vielmehr darin liegen, dass sozialisierte DDR-Bürger eine andere Auffassung von Demokratie haben? Nicht nur Meinungs-, Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit meinen, für die sie im Herbst 1989 auf die Straße gingen. Sondern auch soziale Demokratie, die sie im vereinten Deutschland vermissten oder noch vermissen. Ebenso plebiszitäre Elemente, seien sie noch so rudimentär gewesen. Kurzum: Frauenemanzipation, keine Zwei- oder Dreiklassengesellschaft im Bildungs- und Gesundheitswesen, Recht auf Arbeit – bis hin zur Eingabenkultur …
Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Klaus Wolfram hat mal gesagt: Der Ostdeutsche nimmt Demokratie persönlicher. Er nimmt die Demokratie beim Wort und stellt fest: Es klappt nicht immer. Demokratische Selbstermächtigung hat zum Ende der DDR geführt. Das ist eine anarchische Erfahrung, die der Westen oder exakter: das kapitalistische System als Sieg der überlegenen Wirtschaftsform umgedeutet und sich einverleibt hat. Das ist ein weiteres Problem zwischen Ost und West: Es wird nicht die Fülle von Erfahrungen anerkannt und respektiert, die man im Osten hat: Diktatur, demokratische Selbstermächtigung mit Abschaffung der Diktatur, »Anarchie« im letzten Jahr der DDR und die nunmehrige Demokratie westlicher Spielart. Der Osten ist insofern politisch viel erfahrener, doch das wird in keiner Weise thematisiert, im gesamtgesellschaftlichen Diskurs gar nicht zugelassen. Würde man dies anerkennen, könnten sich andere Perspektiven ergeben in der Beurteilung von Geschichte und Gegenwart. Daran besteht im herrschenden westdeutsch geprägten Diskurs aber kein Interesse. Und so wird sich auf lange Zeit die Sicht des Westens festsetzen – wenn man nicht dagegen agiert.
Geschichte ist ein vermintes Feld, je näher an der Gegenwart, umso mehr. Sie fordern, dass aus der geteilten deutschen Geschichte eine gemeinsame werde. Aber wie?
Wir müssen uns bewusst werden, dass es sich trotz 40-jähriger Zweistaatlichkeit um eine zwar geteilte, aber doch gemeinsame deutsche Geschichte handelt. Dies zu reflektieren lohnt sich, um ein wirklich vereintes Land zu werden. In der Berichterstattung jetzt über die abgeschalteten Atomreaktoren fiel mir beispielsweise auf: Es wurde über den ersten westdeutschen Atomreaktor informiert, der 1960 in der Nähe von München ans Netz ging, aber auch über den ersten, der 1966 in Lubmin in der DDR in Betrieb genommen wurde. Das ist schon mal ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es gibt auf deutschem Boden zwei Geschichten, die parallel verliefen, vielleicht manchmal etwas zeitlich versetzt. Vielfach wurde einfach »vergessen«, die deutsche Geschichte der anderen Seite und aus anderer Sicht zu erzählen. Damit aber wird das Gedächtnis der Anderen beschädigt oder gar gelöscht.
Es gibt zwei Stränge deutscher Nachkriegsgeschichte, die miteinander verzahnt sind. Und ich wünschte mir zum Beispiel, dass unsere Außenministerin Annalena Baerbock, wenn sie über deutsche Geschichte seit 1945 redet, nicht vergisst, dass es zwei deutsche Staaten gab – und zwar aus bestimmten historischen Gründen. Es ist auch nicht einzusehen, dass nur ein Teil Deutschlands, die ehemalige DDR, Hauptverantwortung für das »Dritte Reich« auf sich nehmen soll.
Zumal es die Bundesrepublik war und ist, die sich explizit als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches versteht, viele alte Nazis in Amt und Würden beließ respektive mit hohen Pensionen bedachte, während die DDR mit diesem per Staatsdoktrin Antifaschismus brach. Die fortwährende Nichtbenennung der DDR betraf und betrifft viele Bereiche: Kultur, Wissenschaft, Sport.
Die bildende Kunst wurde als reine Staatskunst diskreditiert, jetzt wird sie leichtfertig in die rechte Ecke gestellt, selbst wenn man konzediert, dass aus den Werken selbst diese Behauptung nicht herauszulesen sei. Und bei einigen DDR-Fußballern, die nach 1990 in der Bundesliga und in der gesamtdeutschen Nationalmannschaft spielten, wurden deren Erfolge in der DDR-Nationalmannschaft zunächst einfach nicht mitgezählt. Die Geschichte von 17 Millionen Menschen wird zuweilen weggewischt, als irrelevant betrachtet und soll offenbar nicht ins kollektive Gedächtnis eingehen. Das hinterlässt Spuren. Das erzeugt Unmut. Und das spaltet die Gesellschaft.
Apropos Bundesliga: Sie sind Fan von RB Leipzig?
Ich weiß, worauf Sie jetzt anspielen. Ich bin nicht wirklich »Fan« von RB Leipzig, ich will einfach nur guten Fußball sehen, und wenn Sie mich fragen, bin ich höchstens »Fan« des FC Liverpool. Und natürlich möchte ich nicht, dass immer nur die Bayern die Meisterschaft gewinnen. Leider hat Borussia Dortmund wieder alles dafür getan, dass sie auch dieses Jahr wieder Meister geworden sind.
Prof. Dirk Oschmann ist am 12. Juni Gast im Literatursalon von Irmtraud Gutschke, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin.
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