Ulrich-Gutmair-Buch: Neue Gabis braucht das Land

Die Neue Deutsche Welle gilt als deutsches Popwunder der frühen 1980er Jahre. Ulrich Gutmair zeigt in seinem Buch »Wir sind die Türken von morgen« hingegen, dass die NDW keineswegs so deutsch war, wie gerne angenommen

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 6 Min.
Gabi Delgado-Lopez live bei einem Konzert im Funkhaus Berlin 2018
Gabi Delgado-Lopez live bei einem Konzert im Funkhaus Berlin 2018

Deutschland, Ende der 1970er Jahre: Das Land ist matt, die Versprechen von ’68 längst verpufft. Die Systemgegner von einst sind auf dem »langen Marsch durch die Institutionen« ermüdet und haben sich nicht selten auf halber Strecke kurzerhand im Staatsdienst eingerichtet. Einige wenige, die sich damit nicht zufriedengeben wollen, legen lieber Bomben in Botschaften oder entführen und töten unliebsame Arbeitgeberpräsidenten. In dieser undurchsichtigen Gemengelage lässt sich am fernen Horizont – wenn auch noch ein paar Jahre entfernt – bereits die Kohlsche »geistig-moralische Wende« erahnen, die dem Land erst noch bevorsteht.

Doch die ist selbstredend hochumstritten. »Neue Männer braucht das Land« singt etwa eine gewisse Ina Deter 1982 in ihrem gleichnamigen Hit – und man darf annehmen, dass sie damit nicht Helmut Kohl meint, der im selben Jahr Kanzler wird. Zwar steht Deter rückblickend schon für jene Phase der Neuen Deutschen Welle, die man heute unter Puristinnen gern als »Ausverkauf« bezeichnet. Doch bringt sie mit ihrem Song eine damals insbesondere unter jungen, urbanen Menschen weitverbreitete Sehnsucht nach sozialkultureller Veränderung auf den Punkt.

Wer aber sind diese neuen Männer, die das Land braucht? Einer von ihnen ist Gabriel Delgado-López, genannt »Gabi«. Er ist als Sohn politisch verfolgter Migranten aus Spanien Ende der 1960er Jahre nach Deutschland gekommen. Schon früh schließt er sich der Düsseldorfer Punkszene an: Erst als Sänger, Texter und Tänzer (sic!) von Mittagspause, aus denen kurz darauf die Fehlfarben hervorgehen. Gabi hingegen gründet gemeinsam mit Robert Görl die Deutsch-Amerikanische-Freundschaft – kurz D.A.F. Den von ihm verfassten Text zum Song »Kebab Träume« – in dem sich auch die für das Buch titelgebende Zeile findet – teilt er sich aber noch ganz brüderlich mit den Fehlfarben.

Gabi revolutioniert mit D.A.F. die deutschsprachige Popmusik: Unerschrocken und selbstbewusst schreibt und singt er homoerotische Songs (»Der Räuber und der Prinz«). Zugleich kokettiert er mit faschistoider Symbolik – allein der Bandname erweckt Assoziationen an die nationalsozialistische »Deutsche Arbeiterfront« (kurz DAF). In ihrem legendären Hit »Der Mussolini« aus dem Jahr 1981 huldigen D.A.F. dem italienischen Diktator ebenso wie Jesus Christus, Adolf Hitler und dem Kommunismus, wodurch der hochenergetische, mit peitschenden Synthesizern und Drums unterlegte Song auf geradezu geniale Weise zu einem grotesken Abgesang auf versteinerte Ideologien jeglicher Art wird – und das mitten in der Hochphase der sich zuspitzenden Systemkonkurrenz zwischen Ost und West.

Damit ist das Duo weit entfernt vom politisch-korrekten, ganz und gar antiironischen grünen Zeitgeist jener Ära; doch kann auch kritischen Beobachtern nicht entgehen, dass D.A.F. mit Faschismus ungefähr so viel am Hut haben wie die Kohl-CDU mit subversiver Popkultur. Was die beiden jungen Männer hingegen tatsächlich interessiert, sind Ambivalenzen, Widersprüche, Provokationen, Kunst und Ironie.

Kaum jemand könnte dieses Spannungsverhältnis jener Zeit besser repräsentieren als ein junger, queerer Migrant wie Gabi. Wohl auch deshalb nimmt er im neuen Buch »Wir sind die Türken von morgen« des »Taz«-Redakteurs Ulrich Gutmair eine hervorgehobene Stellung ein: Denn Gutmair exerziert am Beispiel des D.A.F-Sängers das Verhältnis von Marginalisierung und Emanzipation, indem er dessen von Brüchen geprägten Lebensweg im postfaschistischen Nachkriegsdeutschland teils detailliert nachzeichnet und das Selbstermächtigungspotenzial der frühen Punkbewegung aufzeigt, in der Gabi früh Anschluss fand.

Damit steht er im Buch stellvertretend für eine ganze Generation kulturaffiner junger Migrantinnen und Migranten, die in den 1960er und 1970er Jahren in der damaligen BRD aufwachsen und sich, anders als heute, noch zumeist ohne migrantisierte Rolemodels auf die Suche nach einem eigenen künstlerischen Ausdruck begeben müssen.

So etwa auch Angelo Galizia, Sohn sizilianischer Migranten, der Ende der 1970er Jahre im Raum Limburg mit drei Freunden die Band The Wirtschaftswunder gründet. Mit teils sozialkritischen, teils dadaistischen Texten und androgynen Outfits schlägt das zu drei Vierteln aus Migranten bestehende Quartett damals hohe Wellen. Das Gefühl der Fremdheit ist in den mit starkem Akzent vorgetragenen Texten Galizias omnipräsent: »Ich komm von Süd und such mein Glück/ Heimweh/ Bei euch in Nord/ Oh wie kalt/ Heimweh«, singt er etwa im Stück »Heimweh«.

Doch zugleich fördern ihre Texte auch die emanzipativen Potenziale der neuen gesellschaftlichen Unübersichtlichkeit zutage: »Wer sind denn da die Mädchen/ Wer sind denn da die Boys? Rate mal/ Wer weiß, wer weiß«, heißt es im Stück »Rate mal« in Anspielung auf die zunehmend verschwimmenden Geschlechtergrenzen jener Zeit.

Auch die damalige Studentin Martina Weith sagt dem Patriarchat in jener Zeit den Kampf an. Erst als Mitglied einer feministischen Hochschulgruppe, kurz darauf dann mit der ausschließlich aus Frauen bestehenden Band Östro 430, die sie unter anderem mit ihrer Freundin Bettina Flörichiger gründet. So unterschiedlich der Background von Weith und Galizia auf den ersten Blick sein mag: Sie eint, dass sie die für sie angedachte gesellschaftliche Position nicht widerstandslos akzeptieren. Ihre Musik ist ihnen dabei Mittel des Aufbegehrens.

Gutmair knüpft in seinem mit reichlich Zitaten gespickten Buch einerseits an das 2002 erschienene, schnell zum Buchklassiker avancierten »Verschwende Deine Jugend« von Jürgen Teipel, andererseits an den Film »Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod« von Regisseur Cem Kaya aus dem vergangenen Jahr an. Nun könnte man einwenden, dass zu den Themenschwerpunkten Post-Punk und NDW einerseits sowie popkulturelle Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten und Fremdheitserfahrungen andererseits schon so einiges gesagt und geschrieben wurde. In der hier vorliegenden Verbindung beider Stränge fördert der Autor jedoch tatsächlich so einiges Neues und mitunter Erstaunliches zutage – was nicht zuletzt daran liegt, dass Punk und seine popkulturellen Nachzügler bis heute oftmals eher als Musik weißer Mittelschicht-Kids wahrgenommen werden.

Kenntnisreich führt Gutmair dabei durch eine mitunter unübersichtliche Zeit. Löblich zu erwähnen ist nicht zuletzt das Ansinnen des Autors, keine lückenlose Chronologie, sondern eine ebenso gut lesbare wie unterhaltsame Geschichte schreiben zu wollen. Durch seine Assoziativität fehlt dem Buch mitunter zwar ein leicht nachvollziehbarer roter Faden sowie ein klar formuliertes Erkenntnisinteresse. Dafür aber ist »Wir sind die Türken von morgen« spannender als das Gros belletristischer Neuerscheinungen – und informativer sowieso.

Ulrich Gutmair: Wir sind die Türken von morgen. Klett-Cotta, 304 S., geb., 22 €

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