Mühsam zurück ins Leben

Für Jugendliche mit Essstörungen in Folge der Pandemie fehlen oft die Therapeuten

  • Sabina Crisan
  • Lesedauer: 4 Min.

Helena* erzählt ganz nüchtern vom Abrutschen in ihre Krankheit: Zuerst konnte sie wegen des Lockdowns keinen Sport mehr machen und nahm zu. Dann stieß sie auf Workout-Videos im Internet, die zum Abnehmen anregen. »Ich hatte die Zeit, ich hatte keine Freunde mehr, keine Hobbys mehr, deswegen habe ich mich mit meiner Essstörung beschäftigt«, erzählt die 15-Jährige aus dem Allgäu. Helena ist eine von vielen Jugendlichen in Bayern, die während der Pandemie eine psychische Störung entwickelt hat.

So haben die als repräsentativ für den Freistaat geltenden Abrechnungsdaten der Krankenkasse DAK gezeigt, dass die Zahl neu diagnostizierter psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren zwischen 2019 und 2021 massiv gestiegen ist. Neu diagnostizierte Angststörungen legten um 45 Prozent zu, gefolgt von emotionalen Störungen sowie Depressionen. Im Vergleich zum Vorpandemiejahr 2019 stieg zudem die Zahl der Jugendlichen, bei denen Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie neu diagnostiziert wurden, im Jahr 2021 um 130 Prozent.

Bei Helena begann die Essstörung mit gesunder Ernährung, wurde dann aber zu exzessivem Sport mit Aufstehen um halb fünf Uhr morgens und Erbrechen nach den Mahlzeiten. Ihre fünfköpfige Familie bemerkte das zunächst nicht. Ihre Mutter hielt ihre Bemühungen um Bewegung und Struktur sogar für ein positives Zeichen, »wir haben das noch belobigt am Anfang«. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass ihre Tochter in Wirklichkeit in eine Essstörung abgleitet.

Bei Maria, einer weiteren Jugendlichen, die während der Pandemie große Probleme entwickelte, zeigten sich die ersten Anzeichen einer sozialen Phobie schon vor Corona darin, dass sie in den Sommerferien nicht mehr ins Schwimmbad gehen oder mit ihrer Familie Fahrrad fahren wollte. Sie zog sich immer mehr zurück. Daher war es anfangs eine Erleichterung, während des Lockdowns nicht zur Schule gehen zu müssen, wie die 14-Jährige erzählt. Doch als die Lockerungen begannen, fiel es ihr schwerer als je zuvor.

Inzwischen zeigen diverse Studien, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vor allem aufgrund der Isolation und des fehlenden Kontakts zu Gleichaltrigen gelitten hat. Die Folge: Die Nachfrage nach Psychotherapeuten, die Kinder und Jugendliche behandeln, lag im vergangenen Sommer um 48 Prozent höher als in der Vor-Corona-Zeit, wie eine Ende April veröffentlichte Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung ergab.

Monatelange Wartezeiten sind oft der Normalzustand. Es gebe zu wenig stationäre Behandlungsplätze, zu wenig Therapeuten, zu wenig Therapieplätze, sagt der Chefarzt Psychosomatik und Psychotherapie der Schön-Klinik Roseneck, Ulrich Voderholzer. Was dem Experten für Angst-, Zwangs-, Depressions- und Essstörungen besonders gegen den Strich geht: Oft würden die Jugendlichen mit Antidepressiva behandelt, obwohl die Psychotherapie im Vordergrund stehen sollte.

»Sehr verzweifelt« sei sie gewesen, weil viele Kliniken lange Wartezeiten hatten, erzählt Maria. Nach monatelanger Suche bekam sie letzten Sommer einen Platz. Nach einigen Monaten scheiterte ein Versuch, nach zu Hause zurückzukehren. Seither lebt sie wieder in der Klinik. Immerhin besucht sie inzwischen eine Schule in der Nähe – ein paar Stunden am Tag, dreimal in der Woche. Es ist ein Anfang.

Helena musste gegen einen weiteren Widerstand kämpfen, um Hilfe zu bekommen: Ihr Kinderarzt schätzte die Situation falsch ein. Erst mit starkem Untergewicht landete sie in einem Krankenhaus. »Wer soll denn etwas tun, wenn der Fachmann es nicht wirklich ernst nimmt?«, fragt ihre Mutter sich bis heute wütend.

In der Klinik übte Helena wieder »normal« zu essen, erst allein mit einem Arzt, dann im Speisesaal – und schließlich zu Hause. Dennoch war die Heimkehr nach einem halben Jahr Klinik nicht einfach. Inzwischen freue sie sich darauf, wieder Jazz und Ballett tanzen zu können – und auf eine Zeit, in der sie wieder Spaß mit ihren Freunden haben könne. Auch Maria, die immer noch in der Klinik ist, freut sich darauf, endlich wieder ein »normales Leben« zu führen. dpa/nd

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