Ein Leipziger Kessel Übles

Betroffene und Juristen üben scharfe Kritik an dem massiven Polizeieinsatz anlässlich von »Tag X«

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Bericht ist schwer zu ertragen, das Fazit ernüchternd: Sie durchlebe »einen Albtraum, nur weil ich friedlich an einer Demonstration teilgenommen habe«, bilanziert eine 16-jährige ihre Erlebnisse am 3. Juni in einem anonymen Erfahrungsbericht, der auf der Internetseite der Initiative »Leipzig nimmt Platz« nachzulesen ist. An jenem Tag hatte die linke Szene zum »Tag X« aufgerufen, um nach dem Urteil im »Antifa Ost«-Prozess ihre Solidarität mit Lina E. und drei weiteren Antifaschisten zu zeigen. Behörden und Polizei zeichneten indes das Schreckensszenario einer drohenden Gewaltorgie und unterbanden mithilfe einer Allgemeinverfügung und eines Großaufgebots Tausender Beamten sämtliche Kundgebungen. Dabei wurden auch über 1000 Teilnehmer einer Demonstration für Versammlungsfreiheit rund elf Stunden in einem Kessel festgesetzt.

Die 16-Jährige gehörte zu den Eingekesselten und berichtet von demütigenden Erfahrungen. Ihr seien von Polizisten Faustschläge versetzt worden, ein Toilettengang sei ihr erst nach vier Stunden im Rahmen einer Identitätsfeststellung ermöglicht worden, das Handy wurde ihr abgenommen. In einer Gefangenensammelstelle, in die sie später gebracht wurde, hätten Polizistinnen ihr in die Unterhose und zwischen die Beine gefasst: »Als ich anfing zu weinen, durfte ich mich wieder anziehen.«

Das war kein Einzelfall. In einem offenen Brief der Initiative »Eltern gegen Polizeigewalt« ist nicht nur davon die Rede, dass den Menschen im Kessel, darunter vielen Minderjährigen, Essen, Getränke, warme Decken und der Toilettenbesuch verwehrt wurden; sie hätten sich unter unwürdigen Bedingungen in einem Gebüsch erleichtern müssen. Auch »gewaltsame, sexualisierte, demütigende Maßnahmen« von Polizeibeamten, die in keinem Verhältnis zu den vorgeworfenen Straftaten gestanden hätten, werden kritisiert und teils benannt. Die Initiative prangert einen »an Unmenschlichkeit nicht zu überbietenden Einsatz« an und fordert Leipzigs Polizeipräsident René Demmler zum Rücktritt auf. Polizei und Stadt hätten »nicht Kosten und Mühe gespart, um durch gezielte Provokationen eine Eskalation herbeizuführen«.

In einem weiteren offenen Brief an Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) sprechen auch rund ein Dutzend Initiativen, von Omas gegen Rechts bis zu Fridays for Future, von einer »verstörenden Woche, in der Grundrechte in unserer Stadt suspendiert wurden«. Vor allem die Untersagung einer Demonstration für Versammlungsfreiheit in der selbsternannten Stadt der Friedlichen Revolution sei »nicht nur symbolisch eine Bankrotterklärung«. Die Gefangenen-Gewerkschaft GG/GO plant rechtliche Schritte gegen die »massiven Eingriffe in das demokratische Grundrecht auf Versammlungsfreiheit«.

Den besonders umstrittenen Kessel richtete die Polizei ein, nachdem es ihren Angaben zufolge aus der Versammlung heraus zu »kurzen, aber sehr gewaltvollen Ausschreitungen« gekommen war. »Danach kehrte Ruhe ein«, heißt es lapidar in einer Mitteilung. Die Polizei begründete die massenhafte Feststellung der Identität aller Eingekesselten mit dem Anfangsverdacht des schweren Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung. Ihren Angaben zufolge waren unter den exakt 1040 Eingekesselten zwei Kinder und 80 strafmündige Jugendliche. Diese habe man eigentlich »priorisiert bearbeiten« wollen; die Eingeschlossenen hätten aber überwiegend »keine Kooperationsbereitschaft« gezeigt und seien gegenüber den Einsatzkräften »teilweise feindlich« aufgetreten.

Während die Polizei ihr Vorgehen grundsätzlich verteidigt und lediglich erklärt, eine »Nachbereitungsgruppe« ins Leben gerufen zu haben, gibt es scharfe Kritik nicht nur von Betroffenen, sondern auch von Juristen. In einem Beitrag für den »Verfassungsblog« beschreibt Tore Vetter vom Zentrum für Europäische Rechtspolitik der Universität Bremen den Kessel als eine Maßnahme, die »rechtswidrig und mit der Versammlungsfreiheit unvereinbar gewesen sein dürfte«. Was Dauer und konkrete Umstände anbelange, sei er »in allen Belangen unverhältnismäßig« gewesen. So sei es unzulässig, zahlreiche friedliche Demonstranten nach dem Prinzip »Mitgefangen, mitgehangen« für die Aktion einiger gewaltsamer Störer in Mithaftung zu nehmen. Die Bereitstellung von Toiletten gehöre zu den »Mindeststandards« mit Blick auf die Menschenwürde. Die Polizei hatte erklärt, »Toilettenkraftwagen eingesetzt bzw. eine Verbringung in umliegende Polizeiliegenschaften« organisiert zu haben – freilich im Gegenzug für eine Identitätsfeststellung.

Auch in Sachsens Landtag waren die Vorfälle am Montag Thema; der Innenausschuss kam zu einer nicht öffentlichen Sondersitzung zusammen. Die Linke hatte Auskünfte zum Polizeieinsatz gefordert, die CDU wollte die »Demonstrationslagen« am 3. Juni erläutert haben, die AfD verlangte Aufklärung über das »linksextremistische Versammlungsgeschehen«. Die Abgeordneten hatten indes so viele Fragen an Innenminister und Polizeiführung, dass Ergebnisse nicht vor Redaktionsschluss dieser Seite bekannt wurden.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.