Edition Nautilus: »Bombardiert die Vororte des Schlafs«

Hanna Mittelstädt hat eine subjektive Verlagschronik der Edition Nautilus geschrieben

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 6 Min.
Vom Utopismus entfernt: Die Verleger Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg, 1976 an der Ostsee
Vom Utopismus entfernt: Die Verleger Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg, 1976 an der Ostsee

Vor rund 50 Jahren gründete Hanna Mittelstädt gemeinsam mit Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires in Hamburg einen Verlag, der erst MaD-Verlag und dann Edition Nautilus hieß. Nun legt sie eine subjektive Verlagschronik vor: »Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens« . Hierfür hat sie sich zum Großteil auf die Verlagskorrespondenz gestützt, die sie aus 40 Aktenordnern befreite. Ihre Chronik ist auch als eine Form der Trauerarbeit anzusehen, denn ihr Partner Lutz Schulenburg, der im Buch häufig zu Wort kommt, starb am 1. Mai 2013. Mittelstädt leitete den Verlag bis 2016 und übergab ihn dann an fünf Mitarbeiterinnen, die ihn seitdem als Kollektiv führen.

Das Ganze nahm seinen Anfang in einem Anarchokeller: »Pierre, Lutz und ich hatten uns im Versammlungslokal der Hamburger Anarchisten 1972 kennengelernt (…) Es herrschte eine diffuse Stimmung zwischen Rausch und Verzweiflung, enthusiastischer politischer Diskussion, es gab Posen der Bewaffnung, Posen der Scheißegal-Haltung. (…) Mit Pierre zusammen bildeten wir in diesem schon relativ kleinen anarchistischen Kreis eine besondere Zelle, die Theoretiker, könnte man sagen, diejenigen, die die Geschichte genauer kennenlernen wollten, bevor sie Aktionen starteten oder es lieber ließen.« Sie nannten sich »Subrealisten« und gaben eine »offene anarchistische Zeitschrift« heraus, die sie »MaD – Materialien, Analysen, Dokumente« nannten und 1976 in ein »Diskussions- und Reflexionsblatt« umwandelten, das »Revolte, Organ der Subrealisten« hieß.

Was trieb sie an? »Wenn ich jetzt die Korrespondenzen und auch die kollektiven Texte noch einmal lese, ist zunächst augenfällig, wie stark die Situationistische Internationale unser Vorbild war, sowohl ihre theoretisch-analytische Schärfe als auch die Rigorosität der Ansprüche an die Mitglieder. Und: Wie sehr wir uns bemühten, echte Revolutionäre zu sein, d.h. klar in der Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse, radikal in der persönlichen und kollektiven Haltung, schonungslos gegenüber anderen, aber auch gegenüber uns selbst.«

1977 erwirkte der Williams-Verlag eine einstweilige Verfügung gegen die weitere Nutzung des Namens »MaD«, weil er meinte, dieser Titel könnte mit der deutschen Ausgabe des satirischen US-Magazins »Mad« verwechselt werden. »Das Gute an dieser einstweiligen Verfügung: Endlich bekam der Verlag einen richtigen Namen!«, schreibt Mittelstädt im Rückblick. 2018 wurde das deutsche »Mad« eingestellt.

In ihrem subrealistischen Manifest »Jetzt!«, veröffentlicht 1979, schrieben die Hamburger, dass es ihnen »allein auf das kategorische Urteil ankommt, das es zu fällen gilt, und darauf, dies schleunigst als konzentrierte Gärhilfe in die praktischen Kämpfe einwirken zu lassen ...« Das Cover zierten die Zeilen »bye bye, kleines glück / erledigt die synthetische zeit / bombardiert die vororte des schlafs / sprengt die city des traums.« Ebenfalls 1979 hatte Schulenburg einem Verfechter des Blochschen »Prinzips Hoffnung« geschrieben: »was wir brauchen, ist ein vom utopismus entferntes denken, das radikal ohne jenseits auskommt.«

Vor »Jetzt!« waren bei Edition Nautilus neben Dada- und Surrealismus-Wiederentdeckungen diverse situationistische Texte erschienen, so etwa die gesammelten Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale in zwei Bänden (1976/77), gefolgt von dem situationistischen Hauptwerk von Guy Debord: »Die Gesellschaft des Spektakels«. Darin heißt es: »Das Spektakel ist der Moment, in welchem die Ware zur völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt.« Die französische Originalausgabe war 1967 erschienen und hatte erheblichen Einfluss auf die französischen Ereignisse im Mai 1968.

Debord schrieb, die Selbstemanzipation der Epoche bestehe darin, sich von den materiellen Grundlagen der verkehrten Wahrheit zu emanzipieren. Auf der auf die Situationisten zurückgehenden Praxis der »Dérive«, also des Umherschweifens an einem Ort, um sich den Einflüssen des Geländes und der Begegnungen hinzugeben, die damit einhergehen, beruhen beispielsweise die Bücher »Ruhrtext« und »Rost« des österreichischen Schriftstellers Florian Neuner, die jedoch nicht bei Nautilus erschienen.

»Begabte Großmäuler« nennt Mittelstädt die Nautilus-Autoren Sean McGuffin (dessen Übersetzer der Autor dieser Zeilen ist) und Wiglaf Droste. 1985 erschien die erste Geschichtensammlung von McGuffin mit dem Titel »Bomben, Bullen, Bars – Geschichten aus Nordirland«, 1987 folgte »Der Knieschußclub – Irische Abendunterhaltung«. Und 1993 wurden alle bis dahin vorliegenden Short Stories McGuffins unter dem Titel »Der Mann, der mit Chuck Berry getanzt hat« veröffentlicht – Geschichten, alkoholdurchtränkt und von radikaler Emphase, dabei empfindsam und von gerechtem Zorn bei der Beschreibung der Not der kleinen Leute im kriegszerrissenen Nordirland.

Schon 1990 war McGuffins Polit-Thriller »Der Hund« erschienen, der von einer Spezialeinheit der IRA handelt, die ihre Zeitbomben weltweit ticken lässt und durch nichts und niemanden aufzuhalten ist. Das Buch ist bis heute nicht in englischer Sprache erschienen. Der Nautilus-Autor Franz Dobler schrieb in »Prinz« über diesen Roman: »McGuffins wahnwitziges Spektakel ist getragen von bitterem Humor und politischer Unversöhnlichkeit, wie von Oskar Maria Graf und Franz Jung auf einer ihrer Sauftouren mit traurigem Gelächter herauserzählt.«

À propos Saufen: McGuffin starb 2002 kurz vor seinem 60. Geburtstag, weil er seine Leber kontinuierlich überstrapaziert hatte. Auch bei Wiglaf Droste, von dem bei Nautilus neun Bücher »mit offensiver Freude an der Grenzüberschreitung« erschienen, »kannte der Alkohol kein Pardon« – er wurde nur 57 Jahre alt. Ein anderes »Großmaul« mit einer eher schmalen Begabung, der als Popliterat gehypte Benjamin von Stuckrad-Barre, der lange Zeit für den Axel-Springer-Verlag arbeitete, strebte einst ein Praktikum bei Nautilus an, wurde aber negativ beschieden.

Neben den Situationisten war der Schriftsteller, Spartakist und Schiffsentführer Franz Jung (1888-1963), »das personifizierte NEIN«, ein Kraftfeld des Verlags, der unter Aufbietung aller Kräfte – von wegen »Arbeitet nie!« – eine Werkausgabe dieses Vergessenen herausbrachte. Von Jung, so Lutz Schulenburg, »geht ein Schillern aus, eine irritierende Beunruhigung, ein starkes Energiefeld. In diesem ist alles aufgehoben, was für eine Erneuerung der Lebens- und Produktionsweise notwendig ist.«

Eine »Heldentat«, so Mittelstädt, sei auch die deutsche Übersetzung und Veröffentlichung der Biografie des legendären spanischen Revolutionärs Buenaventura Durruti von Abel Paz (1921-2009) gewesen. »Durruti« wurde finanziert aus den Gewinnen, die der Verlag mit der Veröffentlichung des Buches »Der Rote Kanal« aus der Feder von Karl-Eduard von Schnitzler erzielte. Der war einst Chefkommentator des DDR-Fernsehens gewesen und war in den Westzonen als »Sudel-Ede« tituliert worden. Schnitzlers Publikation ging wiederum auf eine Anregung des Satiremagazins »Titanic« zurück. Fazit Mittelstädt: »Wir hatten gelernt, dass das Wichtigste an einem publizistischen Unternehmen, das ›freie Wort‹ ist, die Debatte, die Neugier…«

Im Anhang des Buches sind auf zehn Seiten alle Nautilus-Veröffentlichungen aufgelistet, auf die hier selbstredend nicht in toto Bezug genommen werden kann.

Hanna Mittelstädt: Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags. Edition Nautilus., 360 S., br., 28 €.

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